Ax Rechtsanwälte

  • Uferstraße 16, 69151 Neckargemünd
  • +49 (0) 6223 868 86 13
  • mail@ax-rechtsanwaelte.de

Bietergemeinschaften sind nicht ohne weiteres wettbewerbsbeschränkende Absprache

von Thomas Ax

Nach § 124 Abs. 1 Nr. 4 GWB können „öffentliche Auftraggeber … unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ein Unternehmen zu jedem Zeitpunkt des Vergabeverfahrens von der Teilnahme an einem Vergabeverfahren ausschließen, wenn der öffentliche Auftraggeber über hinreichende Anhaltspunkte dafür verfügt, dass das Unternehmen mit anderen Unternehmen Vereinbarungen getroffen oder Verhaltensweisen aufeinander abgestimmt hat, die eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezwecken oder bewirken. Hier ist eine entsprechende Ausschlussentscheidung zu treffen. Hier ist das Entschließungs- und Auswahlermessen ordnungsgemäß auszuüben. Der Auftraggeber muss dartun und dokumentieren, dass er bezogen auf die Bietergemeinschaft über hinreichende Anhaltspunkte dafür verfügt, dass mit der Bietergemeinschaft ein Unternehmen mit anderen Unternehmen Vereinbarungen getroffen oder Verhaltensweisen aufeinander abgestimmt hat, die eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezwecken oder bewirken. An die Erfüllung des Tatbestandsmerkmals der hinreichenden Anhaltspunkte für eine wettbewerbsbeschränkende Vereinbarung sind strenge Anforderungen zu stellen.

 

1
Hinreichende Anhaltspunkte im Sinne von § 124 Abs. 1 Nr. 4 GWB liegen vor, wenn aufgrund objektiver Tatsachen die Überzeugung gewonnen werden kann, dass ein Verstoß gegen § 1 GWB / Art. 101 AEUV mit hoher Wahrscheinlichkeit vorliegt. Die Tatsachen beziehungsweise Anhaltspunkte müssen so konkret und aussagekräftig sein, dass die Verwirklichung eines Kartellverstoßes zwar noch nicht feststeht, jedoch hierüber nahezu Gewissheit besteht.

2
Die Vorschrift des § 124 Abs. 1 Nr. 4 GWB ist durch das Vergaberechtsmodernisierungsgesetz vom 17.02.2016 neu in das GWB-Vergaberecht aufgenommen worden. Die Norm setzt Art. 57 Abs. 4 lit. d) der Richtlinie 2014/24/EU in deutsches Recht um. Die deutsche Vorschrift ist nach ihrem Wortlaut strenger als die europarechtliche Bestimmung. Nach Art. 57 Abs. 4 lit. d) der Vergaberichtlinie werden nur Vereinbarungen erfasst, die auf eine Verzerrung des Wettbewerbs abzielen. Nach § 124 Abs. 1 Nr. 4 GWB reicht es schon aus, wenn Wettbewerbsbeschränkungen nur bewirkt werden.
Das in § 124 Abs. 1 Nr. 4 GWB enthaltene Tatbestandsmerkmal der hinreichenden Anhaltspunkte für wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen ist in der Rechtsprechung noch nicht ausgeformt worden. Der Wortlaut der Vorschrift lässt für sich genommen nicht erkennen, welche Anforderungen an die Anhaltspunkte zu stellen sind. Etwaige Synonyme, wie zum Beispiel „genügende Anhaltspunkte“, helfen bei der Interpretation nicht weiter, sondern werfen die gleiche Frage nach den Anforderungen auf. Die Gesetzesmaterialien sprechen dafür, dass der Gesetzgeber an das Merkmal der hinreichenden Anhaltspunkte keine geringen, sondern eher strenge Anforderungen stellen wollte. So heißt es in der Gesetzesbegründung, dass der Ausschlussgrund jedenfalls dann vorliegt, wenn eine Kartellbehörde einen Verstoß in einer Entscheidung festgestellt hat; hingegen soll die bloße Durchführung von kartellbehördlichen Ermittlungen regelmäßig noch nicht ausreichen, um einen Ausschlussgrund zu begründen (BT-Drs. 18/6281, S. 106).
Für ein darin zum Ausdruck kommendes strenges Verständnis in dem Sinne, dass, die Anhaltspunkte so konkret und so aussagekräftig sein müssen, dass die Verwirklichung eines Kartellverstoßes zwar noch nicht feststeht, jedoch hierüber nahezu Gewissheit besteht, spricht, dass an vergaberechtliche Ausschlussentscheidungen, wie sie § 124 Abs. 1 Nr. 4 GWB ermöglicht, auch sonst hohe Anforderungen gestellt werden. So berechtigen an der Eignung des Bieters bestehende Zweifel nur dann zum Ausschluss des Angebots von der Wertung, wenn die Zweifel auf
gesicherten Erkenntnissen beruhen (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 15.08.2011 – VII-Verg 71/11, zitiert nach juris, Tz. 15). Auch eine auf § 60 Abs. 3 Satz 1 VgV gestützte Ausschlussentscheidung ist nur auf gesicherter Erkenntnisgrundlage zulässig.

3
Strenge Anforderungen stellten auch frühere vergaberechtliche Regelungen auf, welche einen Angebotsausschluss wegen wettbewerbsbeschränkender Abreden ermöglichten. So waren nach § 25 Nr. 1 Abs. 1 lit. f) VOL/A i.d.F. vom 06.04.2006 gesicherte Nachweise dafür notwendig, dass eine wettbewerbsbeschränkende Abrede existiert (vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 30.03.2004 – 11 Verg 4/04, zitiert nach juris, Tz. 52).
Zwar ist es richtig, dass sich § 124 Abs. 1 Nr. 4 GWB von den in seinem Kontext geregelten weiteren Ausschlusstatbeständen dadurch unterscheidet, dass ein Verstoß nicht feststehen muss.
Dies ist bei den Ausschlusstatbeständen des § 123 GWB sowie den anderen Nummern des § 124 Abs. 1 GWB anders. Im Unterschied zu diesen lässt es § 124 Abs. 1 Nr. 4 GWB genügen, dass der öffentliche Auftraggeber über hinreichende Anhaltspunkte für einen Verstoß verfügt. Dieser systematische Gesichtspunkt rechtfertigt es aber nicht, die Anforderungen bei § 124 Abs. 1 Nr. 4 GWB deutlich abzusenken und anzunehmen, hinreichende Anhaltspunkte verlangten nicht, dass über einen Kartellverstoß nahezu Gewissheit besteht. Die Gesetzessystematik lässt sich für eine solche Absenkung nicht anführen. Vielmehr kann aus dem Umstand, dass die Regelung des § 124 Abs. 1 Nr. 4 GWB im Kontext von Ausschlusstatbeständen steht, welche Gewissheit verlangen, ebenso gut gefolgert werden, dass die Anforderungen an das Tatbestandsmerkmal der hinreichenden Anhaltspunkte hiervon nicht weit entfernt sein sollen.
Es lässt sich annehmen, dass es Sinn und Zweck der Wahl hinreichender Anhaltspunkte als Tatbestandsmerkmal anstelle der Gewissheit ist, die Anforderungen an eine Ausschlussentscheidung mit Blick auf die Besonderheiten der von § 124 Abs. 1 Nr. 4 GWB erfassten Materie abzusenken. Kartellrechtliche Sachverhalte sind tatsächlich komplex und rechtlich schwierig. Sicherheit über die von § 124 Abs. 1 Nr. 4 GWB erfassten wettbewerbsbeschränkenden Sachverhalte lässt sich, wenn überhaupt, oftmals erst infolge aufwändiger Ermittlungen gewinnen. Gewissheit vermittelnde bestandskräftige kartellbehördliche Entscheidungen sind aber regelmäßig nicht innerhalb der Dauer eines Vergabeverfahrens zu erlangen. Auch für den Dreijahreszeitraum ab einem wettbewerbsbeschränkenden Sachverhalt, innerhalb dessen eine auf § 124 Abs. 1 Nr. 4 GWB gestützte Ausschlussentscheidung nach § 126 Nr. 2 GWB möglich ist, ist dies fraglich. Gewissheit zu verlangen hätte den Anwendungsbereich der Vorschrift daher zu sehr eingeengt. Andererseits sind die weitreichenden und schwerwiegenden Folgen zu berücksichtigen, die mit einer Ausschlussentscheidung verbunden sind.
Dies gilt umso mehr, als § 124 Abs. 1 Nr. 4 GWB nach der Neufassung durch das Gesetz zur Einführung eines Wettbewerbsregisters und zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen inzwischen tatbestandlich weit gefasst ist und zugleich niedrigere Anforderungen an einen Verstoß stellt als Art. 57 Abs. 4 lit. d) der Richtlinie 2014/24/EU. Der Wortlaut der Norm ist auch nicht auf Wettbewerbsverstöße in dem jeweils laufenden Vergabeverfahren beschränkt (vgl. Opitz, in: Burgi/Dreher, Vergaberechtskommentar, Band 1, 3. Aufl., § 124 GWB Rn. 51). Der Gesetzgeber wollte sämtliche Wettbewerbsbeschränkungen durch Vereinbarungen – und nunmehr auch abgestimmte Verhaltensweisen – innerhalb des nach § 126 Nr. 2 GWB berücksichtigungsfähigen Zeitraums erfassen (vgl. BT-Drs. 18/6281, S. 106).

4
Dies spricht dafür, an das Tatbestandsmerkmal der hinreichenden Anhaltspunkte strenge Anforderungen zu stellen und den Abstand zur Gewissheit nicht zu groß werden zu lassen.
Es muss, wie für § 124 Abs. 1 Nr. 4 GWB zu fordern ist, nahezu Gewissheit über eine wettbewerbsbeschränkende Vereinbarung der in der Bietergemeinschaft verbundenen Unternehmen bestehen.
Dies gilt zum einen mit Blick auf die Verbindung der die Bietergemeinschaft bildenden Unternehmen selbst. Der Vergabesenat bei dem OLG Düsseldorf hat in der Vergangenheit wiederholt Kriterien beziehungsweise Fallgruppen benannt, bei deren Vorliegen aus seiner Sicht keine kartellrechtlichen Bedenken gegen die Bildung von Bietergemeinschaften bestehen (vgl. Beschluss vom 08.06.2016 – VII-Verg 3/16, zitiert nach juris, Tz. 10-14; Senatsbeschluss vom 01.07.2015 – VII-Verg 17/15, zitiert nach juris, Tz. 14; ebenso OLG Celle, Beschluss vom 08.07.2016 – 13 Verg 2/16, zitiert nach juris, Tz. 13 ff.).
Soweit eine Entscheidung des Berliner Kammergerichts gegebenenfalls so verstanden werden kann, dass Bietergemeinschaften grundsätzlich kartellrechtlich bedenklich seien (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 24.10.2013 – Verg 11/13, zitiert nach juris, Tz. 32), entspricht dies nicht der Sichtweise des Vergabesenats bei dem OLG Düsseldorf, der schon in der Vergangenheit geurteilt hat, dass nach § 1 GWB nicht vermutet wird, dass eine Bietergemeinschaft eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezweckt oder bewirkt (Senatsbeschluss vom 17.12.2014 – VII-Verg 22/14, zitiert nach juris, Tz. 21).

5
Der Vergabesenat bei dem OLG Düsseldorf hat im Rahmen der Prüfung von Bietergemeinschaften nach § 124 Abs. 1 Nr. 4 GWB (vgl. zu dieser neuen normativen Anknüpfung Opitz, in: Burgi/Dreher, Vergaberechtskommentar, Band 1, 3. Aufl., § 124 GWB Rn. 52) anhand der von ihm gebildeten Fallgruppen auch keine kartellrechtlichen Bedenken, wenn sich in einer Bietergemeinschaft zwei Unternehmen zusammentun, von denen zwar eines zur Durchführung des Auftrags in der Lage ist, das andere aber nicht.
In diesem Fall führt die Bildung einer Bietergemeinschaft in der Regel nicht zur Beeinträchtigung des Wettbewerbs der Bieter untereinander, weil auch ohne Bietergemeinschaft nur ein Unternehmen in der Lage ist, ein Angebot abzugeben (siehe OLG Saarbrücken, Beschluss vom 27.06.2016 – 1 Verg 2/16, zitiert nach juris, Tz. 105).
Der Vergabesenat bei dem OLG Düsseldorf stellt ausdrücklich fest, dass wenn er sich in der Vergangenheit in einer Weise geäußert haben sollte, die so verstanden werden konnte, dass nach der ersten von ihm zur Zulässigkeit von Bietergemeinschaften gebildeten Fallgruppe stets beide Unternehmen für sich genommen nicht zur Leistung in der Lage sein durften, er hieran jedenfalls für die Fälle nicht festhält, in denen die Bildung der Bietergemeinschaft wirtschaftlich zweckmäßig und kaufmännisch vernünftig erscheint (vgl. zu der letztgenannten Anforderung BGH, Urteil vom 13.12.1983 – KRB 3/83, zitiert nach juris, Tz. 15).

6
Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass der öffentliche Auftraggeber im Rahmen der Prüfung nach § 124 Abs. 1 Nr. 4 GWB in Übereinstimmung mit dem Wortlaut der Vorschrift im Grundsatz nur die Anhaltspunkte betrachten und in seine Überlegungen einbeziehen muss und kann, über die er verfügt. Kartellrechtliche Ermittlungen, wie sie das Bundeskartellamt durchführt, sind ihm im laufenden Vergabeverfahren weder möglich noch zumutbar.

Das hat auch Folgen bei der Prüfung der Zulässigkeit von Bietergemeinschaften.

7
Viel mehr als eine Aufforderung an die Bietergemeinschaft, die Gründe für ihre Bildung darzulegen (vgl. hierzu Senatsbeschluss vom 17.12.2014 – VII-Verg 22/14, zitiert nach juris, Tz. 21), kann von ihm angesichts der Eilbedürftigkeit von Vergabeverfahren zur Aufklärung nicht verlangt werden.

8
Die tatbestandliche Erweiterung des § 124 Abs. 1 Nr. 4 GWB um aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen durch das Gesetz zur Einführung eines Wettbewerbsregisters und zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen vom 18.07.2017 führt nicht zu einem Erfolg der Argumentation des Verfahrensbevollmächtigten der Antragsgegnerin. Zwar greift § 124 Abs. 1 Nr. 4 GWB mit der Erweiterung auf abgestimmte Verhaltensweisen nun die beiden wichtigsten Tatbestandsalternativen des § 1 GWB auf und stellt sie – wie im Rahmen von § 1 GWB – gleichrangig nebeneinander (vgl. BR-Drs. 263/17, S. 35).