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VergMan ®: Auftragswert: Los, Bauabschnitte, Auftrag?

Wie der Auftragswert bei Bauprojekten zu ermitteln ist, die aus mehreren Abschnitten bestehen, hat das OLG Schleswig, Beschl. v. 07.01.2021 – 54 Verg 6/20 illustriert: Bei der Schätzung des Auftragswerts ist von dem voraussichtlichen Gesamtwert der vorgesehenen Leistung ohne Umsatzsteuer auszugehen. Was zu dem Auftrag, dessen Wert zu schätzen ist, gehört, ist anhand einer funktionalen Betrachtungsweise zu ermitteln. Bevor eine Aufteilung in verschiedene Aufträge erfolgen darf, sind organisatorische, inhaltliche, wirtschaftliche und technische Zusammenhänge zu berücksichtigen. Ein einheitlicher Auftrag ist insbesondere dann anzunehmen, wenn der eine Teil ohne den anderen keine sinnvolle Funktion zu erfüllen vermag. Besteht zwischen zwei Bauvorhaben kein so enger Zusammenhang, dass der eine Komplex nicht ohne den anderen genutzt werden kann, führt die damit mögliche getrennte funktionale Nutzung zu der Annahme verschiedener Vorhaben. Die Auftragswertschätzung muss dokumentiert werden, und zwar um so genauer, je mehr sich der Auftragswert dem Schwellenwert nähert. Eine unterlassene Dokumentation kann – sogar noch im Beschwerdeverfahren – durch die Übergabe von Unterlagen geheilt werden, aus denen sich die Kosten des Vorhabens ergeben.

Aber der Reihe nach:

Die Höhe des Auftragswertes hat erhebliche praktische Relevanz für die  Vergabeverfahren. Soll eine Leistung beauftragt werden, ist zu klären, welche gesetzlichen Regelungen Anwendung finden. Maßgeblich hierfür ist zunächst, ob der Auftragswert den EU-Schwellenwert überschreitet. Dies ist ausschlaggebend dafür, ob ein EU- oder ein nationales Verfahren durchzuführen ist. Kann ein nationales Verfahren durchgeführt werden, ist anhand des Über-, bzw. Unterschreitens von Wertgrenzen zu prüfen, welche Verfahrensart einschlägig ist. Trotz dieser immensen Bedeutung – für jedes Vergabeverfahren – bestehen in der Praxis im Zusammenhang mit der Auftragswertschätzung erhebliche Unsicherheiten. Die Unsicherheiten verstärken sich, wenn ein Auftrag z.B. in Losen vergeben wird. Die korrekte Berechnung des Auftragswertes kann sich zudem bei der Vergabe zuwendungsfinanzierter Leistungen auswirken. Wurde aufgrund eines falsch berechneten Auftragswertes ein falsches Vergabeverfahren durchgeführt, obwohl der Zuwendungsempfänger zur Beachtung anderer – in der Regel weitergehender – Verfahrensvorschriften verpflichtet war, kann dieser Fehler zur (teilweisen) Rückforderung der Zuwendung führen. Ausgangspunkt für die Auftragswertschätzung ist immer der konkrete vom Bedarfsträger definierte Beschaffungsbedarf (Welche Leistung soll eingekauft werden?). Zugrunde zu legen ist der voraussichtliche Gesamtwert der vorgesehenen Leistung ohne Umsatzsteuer (netto). Unter Berücksichtigung des Zeit- und Materialaufwandes, des Schwierigkeitsgrades und des Haftungsrisikos ist die Schätzung nach rein objektiven Kriterien nachvollziehbar und unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten durchzuführen. Die Schätzung des Auftragswerts darf nicht in der Absicht erfolgen, die Anwendung der Bestimmungen des EU- Vergaberechts zu umgehen. Je näher die geschätzte Gesamtvergütung  dem maßgeblichen EU-Schwellenwert/der maßgeblichen nationalen  Wertgrenze kommt, desto strengere Anforderungen sind an die  Nachvollziehbarkeit der Gründe für die Auftragswertschätzung zu stellen.  

Zur Auftragswertschätzung herangezogen werden können z.B.:

– Erkenntnisse aus eigenen früheren Ausschreibungen, sonstige vergleichbare aktuelle oder frühere Vergaben unter Berücksichtigung der Preisentwicklung und Besonderheiten des jeweiligen Projektes,

– Markterkundungen (Informationsanfragen bei Firmen),

Den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Ermittlung des Auftragswertes wird nicht genügt, wenn der Auftraggeber keine eigenverantwortliche Schätzung vornimmt, sondern lediglich einen von einem potentiellen Bieter telefonisch erfragten Wert zugrunde legt.
OLG Düsseldorf, Verg 5/02, NZBau 2002, 697, 698.

Ebenfalls unzureichend ist eine Schätzung, wenn dabei wesentliche Kostenelemente nicht berücksichtigt werden.
OLG Celle, 13 Verg 4/09

Bei der Schätzung des Auftragswerts von Bauleistungen ist neben dem Auftragswert der Bauaufträge der geschätzte Gesamtwert aller Liefer- und Dienstleistungen zu berücksichtigen, die für die Ausführung der Bauleistungen erforderlich sind und vom öffentlichen Auftraggeber zur Verfügung gestellt werden.33 Maßgeblich hierfür ist ein funktionaler Zusammenhang zwischen den einzelnen Leistungen.

Bei der Auftragswertschätzung nicht zu berücksichtigen sind

– die Kosten des Baugrundstücks (100),

– Kosten der Erschließung des Grundstücks (220, 230; „anteilige Kosten aufgrund gesetzlicher Verpflichtungen“ und „anteilige Kosten für Verkehrsflächen und technische Anlagen, die ohne öffentlich-rechtliche Verpflichtung mit dem Ziel der späteren Übertragung in den Gebrauch der Allgemeinheit aufgewendet werden“),

– einmalige Abgaben (240), o Einbauten in Außenanlagen (550),

– Kosten beweglicher Ausstattungs- und Einrichtungsgegenstände (610, 621) und

– Baunebenkosten (700).
OLG Stuttgart, 2 Verg 9/02; OLG Celle, 13 Verg 8/02; OLG Brandenburg, Verg W 4/02; VK Baden-Württemberg, VK 35/02.

Die Auftragswerte von Planungs- und Bauausführung sind nur zu addieren, wenn diese zusammen vergeben werden.48

Rahmenverträge

Der Auftragswert eines Rahmenvertrages wird anhand des Gesamtwertes aller voraussichtlichen Einzelaufträge während der Laufzeit geschätzt.49 Dieser Gesamtwert, kann, lediglich als Prognose ermittelt werden. Soweit vorhanden, kann die Prognose, unter ggf. erforderlichen Aktualisierungen, auf Erfahrungen aus der Vergangenheit gestützt werden.50

  • Wurde bereits in der Vergangenheit ein Rahmenvertag mit entsprechenden Leistungen ausgeschrieben, dient dieser als Grundlage für die neue Schätzung. Hierbei sind jedoch auch die tatsächlich abgerufenen Leistungen und die so ermittelte Abweichung bei der Auftragswertschätzung zu berücksichtigen.
  • Auch die ohne Vorliegen eines Rahmenvertrags beauftragten Leistungen in der Vergangenheit können für eine Auftragswertschätzung herangezogen werden. Weicht der tatsächliche quantitative Bedarf während der Laufzeit des Rahmenvertrages von der Schätzung ab, ist dies unproblematisch, sofern die Schätzung ordnungsgemäß, das heißt anhand nachvollziehbarer Kriterien vollzogen wurde. Wird durch einen Rahmenvertrag der Bedarf mehrerer Vergabestellen gebündelt, sind die Auftragswerte der gebündelten Bedarfe bei der Berechnung des Auftragswertes zu berücksichtigen. Überschreitet der Auftragswert der gesammelten Bedarfe den EU-Schwellenwert, handelt es sich um ein EU-Verfahren, auch wenn die Teil-Auftragswerte der beteiligten Bedarfsträger jeweils unter dem EU-Schwellenwert liegen. Die Auftragswertschätzung ist Grundlage für die Verfahrenswahl. Daher ist maßgeblicher Zeitpunkt für die Schätzung des Auftragswerts der Tag, an dem die Auftragsbekanntmachung abgesendet oder das Vergabeverfahren auf sonstige Weise (z.B. durch direkte Aufforderung bei freihändiger Vergabe/Verhandlungsvergabe oder beschränkter Ausschreibung ohne Teilnahmewettbewerb) eingeleitet wird. An einer zeitnahen Schätzung fehlt es, wenn zwischen der Schätzung und der Bekanntmachung oder sonstigen Verfahrenseinleitung sechs Monate (oder mehr) vergehen.
    OLG Brandenburg, Verg W 16/10.

     

Für die Verfahrenswahl ist ohne Relevanz, wenn sich der Auftragswert nachträglich, während der Leistungsausführung erhöht.
OLG Düsseldorf, Verg 34/20.

Ein einmal auf Grundlage einer ordnungsgemäßen Auftragswertschätzung  begonnenes Verfahren wird nicht nachträglich falsch, wenn durch den geänderten Auftragswert etwa eine nationale Wertgrenze oder der EU-Schwellenwert überschritten wird. Daher ist, sofern ein Gesamtauftrag in mehreren Losen getrennt voneinander ausgeschrieben wird, für die Schätzung des Auftragswertes sowie des Wertes der einzelnen Lose gleichwohl auf den Zeitpunkt der Einleitung des ersten Vergabeverfahrens abzustellen. Sofern jedoch zwischen der Vergabe der einzelnen Lose im Einzelfall erhebliche Zeiträume, von z.B. mehreren Jahren liegen, ist die zu erwartende Kostensteigerung während dieses Zeitraumes in die Kostenschätzung mit einzubeziehen. Aufgrund der großen Bedeutung des Auftragswertes für die Eröffnung des Rechtsschutzes, ist die Auftragswertschätzung im Vergabevermerk zu dokumentieren. Um z.B. den Vorwurf einer missbräuchlichen Schätzung entkräften zu können, ist dem Auftraggeber zu raten, die rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen der Schätzung nachvollziehbar zu dokumentieren.
OLG Celle, 13 Verg 6/07.
OLG Bremen, Verg 3/2005; OLG Rostock 17 Verg 8/06; OLG Schleswig 6 Verg 1/03.

Die Anforderungen an die Genauigkeit der Wertermittlung und der Dokumentation steigen, je mehr sich der Auftragswert dem Schwellenwert/ der maßgeblichen Wertgrenze annähert.
OLG Celle, Verg 6/07;OLG Karlsruhe VergabeR 2010, 685.

Bevor eine seriöse Auftragswertschätzung erfolgen kann, muss der Auftraggeber insbesondere die vorgesehene Leistung zumindest in den wesentlichen Punkten definieren.
OLG Celle, 13 Verg 6/07, ZfBR 2007, 704, 70.

Der Leistungsumfang, ebenso wie die sonstigen Grundlagen der Schätzung,  muss sich aus der Dokumentation ergeben.

  • Jedenfalls unzureichend ist ein Vergabevermerk, aus dem sich lediglich der geschätzte Auftragswert, nicht jedoch die Grundlagen der Schätzung ergeben.
    OLG Bremen, Verg 3/2005, ZfBR 2009, 696, 69.

     

Die Auftragswertschätzung im schriftlichen Vergabevermerk ist zeitnah vorzunehmen.
§ 20 Abs. 1 Satz 1 VOB/A.

Spätester Zeitpunkt für die Erstellung des Vermerks ist insoweit die Bekanntgabe oder sonstige Verfahrenseinleitung.
Schleswig-Holsteinisches OLG OLGR 2004, 381 f.

Im Vermerk sind alle für die Auftragswertschätzung relevanten Aspekte zu benennen. Insbesondere sind Planungsunterlagen heranzuziehen und ggf. auf diese und andere Dokumente zu verweisen, bzw. diese anzufügen. Der Umfang des Vermerks kann, abhängig von z.B. der Größe des Auftrages und der Nähe zum EU-Schwellenwert, stark variieren. Bei der Auftragswertschätzung ist zu differenzieren, ob mehrere ‚Lose‘ oder mehrere ‚Aufträge‘ vorliegen: Bauleistungen, die in einem funktionalen,  räumlichen und zeitlichen Zusammenhang stehen, bilden Lose eines  einheitlichen Auftrags und sind zu addieren. Hiernach liegen zu addierende Lose eines Auftrags vor, wenn die Leistungen  unvollständige Abschnitte einer einzigen baulichen Anlage sind (die Leistungen  also erst in ihrer Summe die gewünschte Funktion erfüllen): z.B. die einzelnen Bauschritte, welche zur Errichtung eines Gebäudes notwendig sind.
OLG Hamburg NJOZ 2003, 268

Die Gleichartigkeit der Leistungen ist nicht erforderlich. Vergibt der Auftraggeber hingegen zwei oder mehrere funktional, räumlich oder zeitlich unabhängige (Bau-)Leistungen, liegen mehrere selbstständige Bauaufträge und nicht etwa Lose eines Gesamtauftrags vor. Ein eigenständiger (Bau-)Auftrag liegt mithin vor, wenn

  • das Projekt eine eigene, selbständige Funktion erfüllt,
    OLG Hamburg NJOZ 2003, 268

beispielsweise die Errichtung mehrerer Gebäude, welche jedes für sich unabhängig voneinander genutzt werden können oder wenn alle Bauabschnitte als eigenständig nutzbar anzusehen sind.
OLG Brandenburg OLG vom 20.08.2002, Verg W 4/02

Ob die einzelnen Baumaßnahmen eigene wirtschaftliche und/oder technische Funktionen erfüllen, beurteilt sich nach objektiven Kriterien.

  • ein Gesamtprojekt vom Auftraggeber nicht als – ein einheitliches Bauvorhaben – geplant wird. Für diese Beurteilung kommt es nicht – allein – darauf an, welchen Endausbau (Gesamtprojekt) der Bauherr in der Zukunft einmal erreichen will. Vielmehr sind Vorhaben, die über eine lange Zeit hinweg in Teilabschnitten bedarfs- und/oder finanzabhängig verwirklicht werden, zumeist nicht als einheitliche Baumaßnahme anzusehen.

VK Düsseldorf VK – 32/2006 –.

  • Einerseits die Erweiterung eines Gebäudes und die Modernisierung der Brandschutztechnik und andererseits später die Sanierung der Mess-, Steuer- und Regeltechnik ausgeschrieben wird. Ein zwingender technischer und praktischer Zusammenhang besteht nicht.
    OLG Celle IBR 2000, 43.
  • Gleiches gilt für einzelne Bauabschnitte einer Entlastungsstraße, wenn jeder Bauabschnitt für sich in verkehrstechnischer Hinsicht eine sachgerechte Nutzung durch die Verkehrsteilnehmer ermöglicht, so dass bei der Ermittlung der Schwellenwerte auf den Wert des jeweiligen Bauabschnitts abzustellen und eine Addition der Werte nicht vorzunehmen ist.

Brandenburgisches OLG IBR 2002, 67.

  • Auch wenn einzelne Maßnahmen über eine längere Bauzeit ausgeführt werden sollen und abschnittsweise finanziert werden, kann es sich um selbständige Bauwerke handeln.

VK Arnsberg VK 1–05/2002; VK Düsseldorf VK – 32/2006 –.

Der Auftragswert für EU-Verfahren errechnet sich grundsätzlich aus der Summe der Einzelbeträge der beabsichtigten Lose, mithin dem gesamten Auftragswert (bei einem Auftrag „der in mehreren Losen vergeben wird, ist der geschätzte Gesamtwert aller Lose zugrunde zu legen“ (Additionsmethode).