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Versicherungsleistungen: Ortsnähe der betreuenden Agentur als zulässiges und mögliches Vergabekriterium?

von Thomas Ax

Zusammenfassung:

Die Rechtsprechung untersagt die Bevorzugung ortsansässiger und ortsnaher Unternehmen in den Vergabeverfahren. Dies gilt sowohl in Vergabeverfahren über Aufträge unterhalb der Schwellenwerte als auch in europaweiten Vergabeverfahren.

Auch die Berücksichtigung einer bestimmten örtlichen Präsenz als Auswahlkriterium für die Bestimmung des zu beauftragenden Bieters ist grundsätzlich nicht zulässig. Nur ausnahmsweise und bei Vorliegen angemessener, sachlich inhaltlicher und auftragsbezogener Rechtfertigungsgründe kann dagegen in den Vergabeunterlagen die Anforderung an eine bestimmte örtliche Präsenz im Zusammenhang mit der Leistungserbringung verlangt oder bei der Auswahlentscheidung berücksichtigt werden.

Die aus allgemein gerechtfertigten und sachlich begründeten Erwägungen folgenden positiven Reflexe zugunsten ortsansässiger Unternehmen sind von den Konkurrenten und den Nachprüfungsinstanzen hinzunehmen und müssen nicht von der Vergabestelle ausgeglichen werden.

Die Beschränkung des Wettbewerbs auf Unternehmen aus bestimmten Regionen oder Orten (Ortsansässigkeit) ist grundsätzlich unzulässig. Das Kriterium der Ortsnähe darf grundsätzlich bei Vergabeentscheidungen öffentlicher Auftraggeber weder auf der Stufe der Eignungs- noch bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung oder der Zuschlagsentscheidung Berücksichtigung finden.

– BayObLG, Beschluss vom 20.12.1999 – Verg 8/99 – NZBau 2000, 259, 261 –

Das Bayerische Oberste Landesgericht hat in dieser Entscheidung auch klargestellt, dass insbesondere Erwägungen der „politischen Opportunität“ und vor allem das Argument, Steuergelder an die örtliche Wirtschaft zurückführen zu wollen, bei der Auftragsvergabe keine Rolle spielen dürfe. Vergaberechtswidrig sind auch Vorgaben, die darauf abzielen, dass volkswirtschaftliche Vorteile im Hinblick auf die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung in einer Region wertungsrelevant werden sollen.

– VK Baden-Württemberg, Beschluss vom 21.03.2003 – 1 VK 10/03 –

Dies gilt ebenfalls für Vorgaben, die eine Verankerung und Vernetzung des Bieters im regionalen Ausbildungs- und Arbeitsmarkt verlangen und zwar unabhängig davon, ob sie als Wertungskriterium oder als Eignungskriterien anzusehen sind.

– VK Bund, Beschluss vom 14.08.2009 – VK 2 – 93/09 –

Eine andere Sichtweise kann auch nicht damit begründet werden, dass die zu verwendenden Haushaltsmittel einem nationalen Konjunkturförderprogramm entstammen und der Förderzweck auf nationaler Ebene durch eine Auftragsvergabe an einen ausländischen Bieter möglicherweise nicht erfüllt wird.

– VK Bund, Beschluss vom 12.11.2009 – VK 3-208/09; Hausmann/von Hoff, in: Kulartz/Marx/Portz/Prieß, Kommentar zur VOB/A, 2. Auflage 2014, § 6 VOB/A, RdNr. 9 –

Im Ergebnis dürfen sich derartige unzulässige Beschränkungen weder aus dem Text einer Vergabebekanntmachung oder dem Inhalt der Vergabeunterlagen ergeben. Auch der Inhalt einer Leistungsbeschreibung darf nicht dazu „missbraucht“ werden, ohne sachlichen Grund regionale ansässige Unternehmen unmittelbar oder mittelbar zu bevorzugen.

– Müller-Wrede, Örtliche Präsenz, Ortsnähe und Ortsansässigkeit als Wertungskriterium – eine Verletzung des Diskriminierungsverbotes?, VergabeR 2005, 32, 34; Hausmann/von Hoff, in: Kulartz/Marx/Portz/Prieß, Kommentar zur VOB/A, 2. Auflage 2014, § 6 RdNr. 10 f.; 10 Müller-Wrede/Horn, in: Müller-Wrede, VOL/A Kommentar, 4. Auflage 2014, § 19 VOL/A-EG, RdNr. 290, jeweils mit umfangreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung –

Überdies sind auch jegliche Formen einer mittelbaren Diskriminierung ortsferner Unternehmen unzulässig. Dies gilt für die Auswahl von Eignungs- und Zuschlagskriterien gleichermaßen. Auf dieser Grundlage sind etwa Kriterien wie „vorherige Zusammenarbeit“, „regionale Erfahrung“, „Erfahrung mit Fördermittelanträgen im Bundesland xy“ etc. unzulässig. Dies gilt gleichfalls für eine positive Berücksichtigung einer besonderen Bekanntschaft eines Bieters zu einem Ansprechpartner bei Behörden oder etwa der Vergabestelle.

– Hänsel, in: Ziekow/Völlink, Kommentar zum Vergaberecht, § 6 VOB/A, RdNr. 3, mit Nachweisen aus der Spruchpraxis der Vergabekammer Sachsen und Baden-Württemberg –

Eine indirekte und mittelbar wirkende Diskriminierung liegt auch dann vor, wenn eine größere Auftragsvergabe ausschließlich in einer kleineren Lokalzeitung bekannt gemacht wird und dadurch zwangsläufig nur ein regional begrenzter Kreis von Unternehmen Kenntnis erlangt.

– OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 23.08.2001 – 4 L 5/01 – ZfBR 2002, 305; Bauer, in: Heiermann/Riedl/Rusam, Handkommentar zur VOB, 13. Auflage 2012, § 6 VOB/A RdNr. 5 –

Die Rechtsprechung hält es insgesamt für sachgerecht und wettbewerblich geboten, keine Kriterien aufzustellen, die faktisch die vor Ort etablierten Unternehmen bevorteilen – weil sie zum Beispiel über das Personal, Räumlichkeiten, die Vernetzung vor Ort etc. bereits verfügen -, wenn nicht zugleich gewährleistet ist, dass auch regionale Newcomer nicht von vorneherein schlechter gestellt werden als Ortsansässige.

– VK Bund, Beschluss vom 19.07.2013 – VK 1 – 51/13 – IBR 2014, 43 = VPR 2014, 36; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 19.06.2013 – VII Verg 8/13 – IBR 2013, 696, 701 –

Soweit aber ein Unternehmen kalkulatorische Vorteile daraus gewinnt, dass es sich in der Nähe des vorgesehenen Leistungsortes befindet und damit eine größere Schnelligkeit und Effizienz in seiner Preiskalkulation berücksichtigen kann, besteht umgekehrt keine Verpflichtung des öffentlichen Auftraggebers, solche Vorteile künstlich zu nivellieren.

– VK Bund, Beschluss vom 18.11.2004 – VK 2-169/04; BayObLG, Beschluss vom 03.07.2002 – Verg 13/02 – NZBau 2003, 105; Hausmann/von Hoff, in: Kulartz/Marx/Portz/Prieß, Kommentar zur VOB/A, 2. Auflage 2014, § 6 VOB/A, RdNr. 16 –

Im Einzelnen kann danach differenziert werden, ob von den Bietern eine räumliche Nähe seiner Niederlassung (Ortsansässigkeit/Ortsnähe), oder (nur) eine bestimmte örtliche Verfügbarkeit und ein damit verbundener befristeter Aufenthalt (Ortspräsenz) verlangt wird.

– Müller-Wrede, Örtliche Präsenz, Ortsnähe und Ortsansässigkeit als Wertungskriterien – eine Verletzung des Diskriminierungsverbotes?, VergabeR 2005, 32; Müller-Wrede/Horn, in: Müller/Wrede, Kommentar zur VOL/A, 4. Auflage 2014, § 19 VOL/A-EG, RdNr. 289 –

Kriterien, die in erster Linie (nur) auf eine (auf welche Weise auch immer umschriebene) örtliche Präsenz im Zusammenhang mit der Leistungserbringung abheben, werden dabei in der Regel als zulässig angesehen, wenn hierfür eine im Auftragsgegenstand begründete sachlich-inhaltliche Rechtfertigung besteht.

– VK Baden-Württemberg, Beschluss vom 14.11.2013 – 1 VK 37/13; VK Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 30.08.2013 – VK 1-12/13 –

Diese Anforderung wird zum Teil auch damit umschrieben, dass eine Rechtfertigung besteht, wenn die vor Ort bestehende Verfügbarkeit im konkreten Fall „wirtschaftlich relevant ist“.

– Müller-Wrede/Horn, in: Müller/Wrede, Kommentar zur VOL/A, 4. Auflage 2014, § 19 VOL/A-EG, RdNr. 291 unter Verweis auf: OLG Naumburg, Beschluss vom 12.04.2012 – 2 Verg 1/12 – IBR 2012, 413 –

In dem vom OLG Naumburg entschiedenen Sachverhalt wurde etwa anhand eines Unterkriteriums „Angaben zur Sicherstellung der personellen Verfügbarkeit“ angenommen, es sei im Rahmen eines komplexen IT-Projektes „ohne Weiteres nachvollziehbar“, dass ein Angebot als qualitativ hochwertiger bewertet werden soll (und kann), wenn eine ständige oder zumindest zeitlich umfangreiche Ansprechbarkeit, gegebenenfalls häufige Präsenz vor Ort oder einfach zu handhabende Kommunikationsmöglichkeit darin zum Ausdruck kommt. Ebenso kann das Verlangen nach einer Einsatzbereitschaft in 30 Minuten nach Eingang einer Störmeldung (bei einer Ausschreibung betreffend die Wasserversorgung) sachlich gerechtfertigt sein.

– OLG München, Beschluss vom 11.04.2013 – Verg 3/13 – VPR 2013, 88 –

Ebenso kann die Festlegung einer maximalen Transportentfernung zum Übergabeort von Abfällen, soweit entsprechende Vorgaben auftragsbezogen und sachlich gerechtfertigt sind, selbst dann nicht als von vornherein vergaberechtswidrig erachtet werden, wenn sie faktisch wettbewerbsbeschränkend wirkt.

– OLG Koblenz, Beschluss vom 22.07.2014 – 1 Verg 3/14 – VPR 2014, 4202; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 03.04.2008 – VII Verg 54/07 – VPRRS 2013, 0470 –

Für die Annahme der Zulässigkeit solcher Kriterien bedarf es aber besonderer Leistungsinhalte, die besondere Bedürfnisse bedingen. Nur dann ist die erforderliche sachlich-inhaltliche und auftragsbezogene Rechtfertigung denkbar. Die Erforderlichkeit einer sachlich-inhaltlichen und auftragsbezogenen Rechtfertigung zur Festlegung solcher oder ähnlicher Inhalte in den Vergabeunterlagen wird von der Rechtsprechung umfassend geprüft. Die Vorgaben sind auch auf das unvermeidbare Maß einer möglichen Ungleichbehandlung zu beschränken. Die noch verbleibenden Vergleichsbehandlungen sind allerdings zur Durchsetzung einer wirtschaftlichen Vergabe hinzunehmen.

– vgl. Müller-Wrede/Horn, in: Müller-Wrede, Kommentar zur VOL/A, § 19 VOL/A-EG, RdNr. 291 –

Die gleichen Anforderungen gelten für die Forderung nach lokalen oder regionalen Nachweisen und die Vorgabe von anderen Hemmnissen in nationalen Vergabeverfahren. Auch die Vorgaben aus dem AEU-Vertrag enthalten ein entsprechendes Diskriminierungsverbot und untersagen es, etwa die Eignung eines Bieters davon abhängig zu machen, dass er Erfahrungen in einem bestimmten Mitgliedsstaat, einer bestimmten Region oder mit einer bestimmten Gesellschaft aufweisen muss und sich dadurch Vorteile gegenüber anderen bestimmten Bietern verschaffen kann.

– EuG, Urteil vom 29.05.2013 – Rs. T-384/10 – IBR 2013, 554 = VPR 2013, 61 (zu grenzüberschreitenden Vergaben im Unterschwellenbereich) –

Unabhängig von diesen Einschränkungen können nur dann, wenn wertmäßig kleine und alltägliche Vergaben betroffen sind, so dass es sich für weiter entfernt ansässige Bewerber aus wirtschaftlichen Gründen nicht lohnt, an der Vergabe teilzunehmen, Ausnahmen im Einzelfall gerechtfertigt sein.

– OVG Schleswig, Urteil vom 23.08.2001 – 4 L 5/01 – ZfBR 2002, 305; Hänsel, in: Ziekow/Völlink, Kommentar zum Vergaberecht, § 6 VOB/A, RdNr. 2 –

Während eines Vergabeverfahrens bestehen an verschiedenen Stellen Beurteilungs- und Wertungsspielräume für die öffentlichen Auftraggeber. Sie betreffen unter anderem die Wahl des Beschaffungsgegenstandes, die Auswahl der Anforderungen an die Eignung von in Betracht zu ziehenden Interessen und Bewerbern, die Gestaltung der für die Leistungserbringung zu bildenden Lose, die Auswahl und Festlegung der von den Bietern abverlangten Erklärungen oder die Wertungsentscheidung über die Auswahl des zu bezuschlagenden Angebots (in der letzten Stufe).

– Beispielhaft wird nur Bezug genommen auf: OLG München, Beschluss vom 05.11.2009 – Verg 13/09 – IBRRS 2010, 3114 (materielle Eignungsprüfung); OLG München, Beschluss vom 22.11.2012 – Verg 22/12 – IBR 2013, 95, Beschluss vom 05.10.2012 – Verg 15/12 – IR 2012, 726 (Ausschluss wegen Unzuverlässigkeit); OLG Düsseldorf, Beschluss vom 30.07.2009 – Verg 10/09 – IBR 2010, 47 (Restbereich für eine freie Wertung in der 4. Wertungsstufe) –

Bei der Ausübung der Entscheidungen der Vergabestelle, für die ihr ein Beurteilungs- oder Wertungsspielraum zukommt, ist jedoch stets zu berücksichtigen, dass diese Entscheidungen ihrerseits nicht völlig frei getroffen werden können. vielmehr kann die Ausübung des Beurteilungsspielraums durch die Vergabestelle von Nachprüfungsinstanzen daraufhin überprüft werden, ob die rechtlichen Grenzen des Beurteilungsspielraums verkannt oder überschritten werden. Dies ist der Fall, wenn das vorgeschriebene Verfahren nicht eingehalten, von einem unzutreffend oder nicht vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen worden oder sachwidrige Erwägungen in die Entscheidung eingeflossen und für sie verantwortlich waren oder wenn bei der Entscheidung ein sich sowohl im Rahmen des Gesetzes wie auch im Rahmen der Beurteilungsermächtigung haltender Beurteilungsmaßstab unzutreffend angewandt worden ist.

– OLG München, Beschluss vom 05.11.2009 – Verg 13/09 – IBRRS 2010, 3114; OLG München, Beschluss vom 21.04.2006 – Verg 8/06 – IBR 2006, 417; OLG München, Beschluss vom 22.11.2012 – Verg 22/11 – IBR 2013, 95 –

Überdies sind bei der Ausübung von Beurteilungsspielräumen die die Entscheidung tragenden Erwägungen nachvollziehbar im Vergabevermerk zu dokumentieren sind, um gegebenenfalls den Nachprüfungsinstanzen diese erforderliche und gebotene Prüfung auch zu ermöglichen.

Zusammengefasst heißt das Folgendes:

 Kriterien, die in erster Linie (nur) auf eine (auf welche Weise auch immer umschriebene) örtliche Präsenz im Zusammenhang mit der Leistungserbringung abheben, werden dabei in der Regel als zulässig angesehen, wenn hierfür eine im Auftragsgegenstand begründete sachlich-inhaltliche Rechtfertigung besteht.

Vorstellbar und erprobt ist folgendes Bewertungssystem: