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VK Lüneburg: Der Ukrainekrieg ist als Ereignis anzusehen, das den Bietern auch noch im Frühjahr 2023 eine kaufmännisch vernünftige Kalkulation ohne Preisgleitklausel unmöglich macht

vorgestellt von Thomas Ax

Das Vergaberecht verpflichtet den öffentlichen Auftraggeber, sich wettbewerbsrechtlich fair zu verhalten. Dazu gehört jedenfalls im Bauvergaberecht das Verbot der Aufbürdung eines ungewöhnlichen Wagnisses. Der öffentliche Auftraggeber auferlegt dem Auftragnehmer ein ungewöhnliches Wagnis, wenn er von den Anbietern feste Preise für alle Positionen des Leistungsverzeichnisses einfordert, obwohl durch den Krieg zwischen Russland und der Ukraine und die verhängten Sanktionen erhebliche Veränderungen in der Bitumenversorgung bestehen. Der Ukrainekrieg ist als Ereignis anzusehen, das den Bietern auch noch im Frühjahr 2023 eine kaufmännisch vernünftige Kalkulation ohne Preisgleitklausel unmöglich macht (Fortführung von VK Westfalen, IBR 2022, 532).

VK Lüneburg, Beschluss vom 01.02.2023 – VgK-27/2022

Tenor:

1. Es wird festgestellt, dass die Antragstellerin in ihren Rechten verletzt ist. Das Vergabeverfahren wird in den Stand vor Versand der Vergabeunterlagen zurückversetzt. Der Antragsgegner wird verpflichtet, bei fortbestehender Vergabeabsicht die Vergabeunterlagen unter Berücksichtigung von Preisgleitklauseln neu zu erstellen und die aus der Begründung ersichtliche Rechtsauffassung der Vergabekammer zu beachten.

2. Die Kosten werden auf … Euro festgesetzt.

3. Der Antragsgegner hat die Kosten des Verfahrens (Gebühren und Auslagen der Vergabekammer) zu tragen. Der Antragsgegner ist jedoch von der Entrichtung der Kosten persönlich befreit.

4. Der Antragsgegner hat der Antragstellerin die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen notwendigen Aufwendungen zu erstatten.

Begründung:

I.

Der Antragsgegner hat mit EU-Bekanntmachung vom ….2022 einen Bauauftrag über Dachabdichtungsarbeiten und Dachbegrünung im Offenen Verfahren ausgeschrieben. Dabei handelt es sich um mehrere Bauteile, die einzeln abgerechnet werden sollen. Nach dem Leistungsverzeichnis sind folgende Neubauten geplant:

– Neubau des … (…)

– Neubau Service- und Logistikgebäude (SLG)

Die Laufzeit des Vertrages soll gemäß Ziffer II.2.7) der Bekanntmachung am 20.01.2023 beginnen und am 26.07.2024 enden.

Dabei wird gemäß Ziffer II.2.14) die auftragsspezifische Ausführungszeit für die Herstellung der beiden Bauteile mit einem Zeitraum von Februar bis August 2023 angegeben. Die Inbetriebnahme soll zwischen dem 22. und 26.07.2024 erfolgen.

Nach Ziffer II.2.5) ist der Preis das einzige Zuschlagskriterium. Nach Ziffer 2.1 des Angebotsschreibens ist die jährliche Vergütung für einen Instandhaltungsvertrag Teil der Angebotsendsumme (Ziffer 2), wenn dieser den Vergabeunterlagen beiliegt.

Nach den Ziffern II.2.10) und II.2.11) sind Varianten/Alternativangebote nicht zulässig (siehe auch Ziffer 6.1 Formblatt 211 EU) und Optionen nicht vorgesehen. Die Abgabe von mehr als einem Hauptangebot ist nach Ziffer 5 der Aufforderung zur Angebotsabgabe (Formblatt 211 EU) zugelassen.

Ausweislich Ziffer A der Aufforderung zur Angebotsabgabe (Formblatt VHB 211 EU) sind 2 Wartungsverträge (1 x …, 1 x Servicegebäude) Bestandteil der Vergabeunterlagen. Unter Ziffer C), ebenso unter Ziffer 1.1 des Formblattes 216, wird festgelegt, dass die Vertragsformulare für Instandhaltung mit dem Angebot einzureichen sind.

Nach Ziffer 7 erfolgt die Wertung der Angebote wie folgt:

„Der Preis wird aus der Wertungssumme des Angebots ermittelt.“

Die Wertungssummen werden ermittelt aus den nachgerechneten Angebotssummen, insbesondere unter Berücksichtigung von Nachlässen, Erstattungsbetrag aus der Lohngleitklausel, Instandhaltungsangeboten.

Ferner gilt nach Ziffer 4 des Formblattes 242 für die Wertung des Angebotsteils Instandhaltung:

„Ist der Angebotsteil Instandhaltung nicht wertbar, wird das Angebot insgesamt (und damit auch der Angebotsteil Erstellung der Anlage) ausgeschlossen.

Der Angebotswertung werden die angebotenen Preise für die vertraglich vorgesehene Laufzeit zugrunde gelegt. […] Preisgleitklauseln bleiben bei der Wertung unberücksichtigt. Die Positionen, die nur auf besondere Aufforderung durch den Auftraggeber zur Ausführung kommen, werden nicht gewertet, es sei denn, in den Vergabeunterlagen wird ein Wertungsmodus genannt.“


Nach dem Angebotsschreiben (Formblatt 213) sind unter den Ziffern 2 und 2.1 die Angebotsendsumme des Hauptangebotes und die Gesamtsumme der jährlichen Vergütung gemäß Instandhaltungsvertrag anzugeben.

Unter Bezugnahme auf die Erlasse des Bundesministeriums für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauen vom 27.03.2022 sowie des Niedersächsischen Ministeriums für Wirtschaft, Arbeit, Verkehr und Digitalisierung vom 07.03.2022 weist die Antragstellerin mit Nachricht vom 30.11.2022 darauf hin, dass durch den Ukrainekrieg eine außergewöhnliche Situation eingetreten sei, die eine seriöse Angebotskalkulation nicht möglich mache, und empfiehlt, Stoffpreisklauseln basierend auf dem Formblatt 226 des Vergabehandbuchs zu vereinbaren. Dazu wurden folgende Bieterfragen gestellt:

„1. Warum ist die Vereinbarung einer Preisgleitklausel im Vergabeverfahren nicht vorgesehen?

2. Soll sie nach Vertragsabschluss vereinbart werden?“


Der Antragsgegner teilt daraufhin nur der Antragstellerin als Bieterinformation mit, dass auf der Grundlage des BMI-Erlasses vom 21.05.2021, nach dortigem Verweis auf den Erlass des BMVBS aus dem Jahr 2013, sowie der VHB RL 225 für die Gewährung einer Stoffpreisgleitklausel das gleichzeitige Vorliegen der Voraussetzungen nach der Richtlinie zu VHB 225 Nr. 2 zu prüfen sei. Nach dieser Prüfung sei festgestellt worden, dass die Voraussetzungen nach 2.1 b), der Zeitraum zwischen Angebotsabgabe und Fertigstellung (größer 10 Monate), nicht zutreffe und daher die Voraussetzungen zur Gewährung einer Stoffpreisgleitklausel nicht erfüllt würden.

Unter Wiederholung ihrer Fragen, teilte die Antragstellerin daraufhin am 09.12.2022 über das Vergabeportal mit, dass die 1. Bieterfrage nicht auf den normalen Kalkulationsfall, sondern auf dem Erlass des Bundesministeriums für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen vom 27.03.2022 abstelle, nach dem die Grundsätze zur Anwendung von Preisvorbehalten bei öffentlichen Aufträgen vorübergehend dahin ausgelegt würden, dass die Vereinbarung einer Preisgleitklausel auch dann zulässig sei, wenn der Zeitraum zwischen Angebotsabgabe und Lieferung bzw. Fertigstellung einen Monat betrage.

Daraufhin wiederholte die Antragstellerin ihre Fragen und rügte mit Schriftsatz vom 12.12.2022, dass ihr für Umstände und Ereignisse, auf die sie keinen Einfluss habe, ein ungewöhnliches Wagnis aufgebürdet würde. Das Vorgehen des Antragsgegners stehe im Widerspruch zur aktuellen Erlasslage. Zudem stehe eine Antwort auf die zweite Frage noch aus.

Der Antragsgegner veröffentlicht daraufhin am 13.12.2022 eine Bieterinformation an alle Bieter mit den Ausführungen und Fragen der Antragstellerin und beantwortet diese dahin gehend, dass es richtig sei, dass nach aktueller Erlasslage der zu bewertende Zeitraum von 10 auf 1 Monat verringert worden sei. Daher sei eine Prüfung im Rahmen der Kostenentwicklungen der maßgeblichen Stoffe erfolgt. Bewertet worden seien die Stoffe EPDM-Dachbahnen, Bitumendichtbahnen sowie das Dämmmaterial. Dabei sei festgestellt worden, dass sich die Preise stabil verhalten. Tendenziell seien sie seit Juni 2022 wieder fallend. Es sei somit nicht von einer Preissteigerung auszugehen, tendenziell würden weiter fallende Preis erwartet.

Am 14.12.2022 reichte die Antragstellerin einen Nachprüfungsantrag ein, da die inhaltliche Nichtbeantwortung der Fragen, einen erheblichen Verstoß gegen die Vergabebestimmungen der VOB/A und des Vergabehandbuchs darstelle und dies den Bietern bei ihrer Preisermittlung erhebliche, nicht abzuschätzende Risiken aufbürde. Der Antragsgegner verlängerte die Angebotsfrist bis zum ….2023, 11.00 Uhr.

Die Antragstellerin beantragt,

das Vergabeverfahren in den Zustand vor Versendung der Vergabeunterlagen zurückzuversetzen.

Der Antragsgegner beantragt,

den Nachprüfungsantrag zurückzuweisen.

Mit Schriftsatz vom 15.12.2022 nimmt der Antragsgegner dahin gehend Stellung, dass es keinen erkennbaren Anlass gegeben habe, eine Preisgleitklausel zu vereinbaren. Die Prüfung vor dem Vergabeverfahren habe ergeben, dass eine Stoffpreisgleitklausel aufgrund von anderen Erfahrungen von Ausschreibungen nicht eingeführt werden musste, da bei dem ausgeschriebenen Gewerk keine Preissteigerungen seit Anfang des Jahres zu verzeichnen gewesen seien. Die Preise seien zum Zeitpunkt der Erstellung des Leistungsverzeichnis eher stabil gewesen, bei leicht rückläufiger Tendenz. Somit sei von keinem unkalkulierbarem Preisrisiko auszugehen gewesen.

Aufgrund der Reaktion der Antragstellerin auf die erste Bieterinformation seien die Voraussetzungen der Stoffpreisgleitklausel erneut geprüft worden. Dabei sei festgestellt worden, dass die Ausführungsfrist fälschlicherweise aus dem alten Erlass (BWI 7-70437/9#3) entnommen worden sei. Woraufhin die Indizes der Materialen/Stoffe in der Fachserie 17 Reihe 2 des Statistischen Bundesamts in der Tiefe dahin gehend geprüft worden seien, ob in diesen erheblichen Preisschwankungen vorkämen.

Für die Beurteilung sei der Zeitraum von Mai 2022 bist Oktober 2022 herangezogen worden. Mit der zweiten Bieterinformation vom 13.12.2022 sei die Bieterfrage vom 09.12.2022 beantwortet und der Entschluss mitgeteilt worden, dass weiterhin von einer Stoffpreisgleitklausel abgesehen würde, da bei der Interpretation der Indizes keine starken Schwankungen nach oben und unten aufgefallen seien. Da die Tendenz seit Juni eher fallend gewesen sei, würdedavon ausgegangen, dass es sich nicht um ein unkalkulierbares Preisrisiko handele. Mit der zweiten Bieterinformation seien die größten Positionen des LVs überprüft und dargelegt worden.

Mit Schriftsatz vom 23.01.2023 vertieft der Antragsgegner seinen Vortrag und trägt ergänzend vor, dass nach den Regelungen des Bundes vorgegeben sei, welche Stoffe besonderen Preisschwankungen unterliegen würden. Damit sei jedoch keine vollständige Risikoabwägung gemeint, und es sei weiterhin erforderlich, das Preisrisiko für den Beschaffungszeitraum zu prüfen. Entsprechend sei dies anhand der Indexentwicklungen der letzten Monate und den Erfahrungen aus anderen Verfahren abgeschätzt worden. Daraus habe sich kein ungewöhnliches Wagnis für die Kalkulation ergeben, und der Vergabevorschlag gebe daher ausdrücklich an, dass die stark gestiegenen Materialpreise der letzten Monate sich wieder stabilisieren und die Unternehmer somit weniger Wagnis haben würden.

Zudem habe die Antragstellerin ein Angebot eingereicht. Die Angebotsabgabe sei durch elf Bieter erfolgt, wobei die ersten drei Angebote vom Preis her dicht beieinander lägen. Somit sei eine Kalkulation offensichtlich möglich gewesen.

Ferner sei die Anfrage der Antragstellerin als allgemeine Anfrage zum Umgang mit der Stoffpreisgleitklausel zu verstehen und nicht als Hinweis auf ein unkalkulierbares Angebot. Somit fehle es an einer Darstellung des angeblich bestehenden Risikos. Die Entscheidung der Vergabestelle, keine Stoffpreisgleitklausel in das Vergabeerfahren einzubeziehen, sei mit den Bestimmungen des Vergabehandbuchs und den Sonderregeln des BMWSB-Erlasses vereinbar.

Die Beigeladene zu 1 stellt keinen Antrag, die Beigeladene zu 2 hat sich am Verfahren nicht beteiligt.

Wegen des übrigen Sachverhalts wird auf die Schriftsätze der Beteiligten, die Vergabeakte und das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 25.01.2023 Bezug genommen.

II.

Der zulässige Nachprüfungsantrag ist begründet. § 7 EU Abs. 1 Nr. 3 VOB/A ist eine über § 113 GWB, § 2 VgV anzuwendende bieterschützende Vorschrift. Der Antragsgegner bürdet der Antragstellerin ein ungewöhnliches Wagnis auf, indem er von den Anbietern feste Preise auch für die im Erlass des BMWSB vom 25.03.2022 zum Russland-Ukraine-Krieg genannten Stoffgruppen einfordert, obwohl zu Beginn des Krieges rund 30% der hiesigen Bitumenversorgung in Abhängigkeit von den Erdölimporten aus Russland erfolgen. Die Vergabekammer darf diesen und weitere Erlasse nicht als unmittelbar anzuwendendes Vergaberecht normativ anwenden, weil es sich um Binnenrecht der Behörden handelt. Sie wendet die Erlasse als unmittelbar zu würdigende Erkenntnisquelle des Sachverhalts an. Auch wenn zahlreiche eingegangene Angebote auf eine Einschätzung der Bieter hindeuten, der Markt rechne nicht mit weiteren Preissteigerungen, bleibt der öffentliche Auftraggeber im Bauvergaberecht verpflichtet, die Bieter mit einer Stoffpreisgleitklausel vor Preiserhöhungen zu schützen. Ob das Haushaltsrecht ihm auferlegt, die Klausel auch zum Schutz des öffentlichen Auftraggebers vor weiteren Preissenkungen anzuwenden, ist hier nicht zu entscheiden (vgl. nachfolgend zu 2).

1. Der Nachprüfungsantrag ist zulässig. Das Land ist als Gebietskörperschaft öffentlicher Auftraggeber nach § 99 Nr. 1 GWB. Das ihn vertretende Amt ist mit Außenwirkung nach § 79 NJG als Behörde vor Verwaltungsbehörden wie der Vergabekammer (vgl. § 158 GWB, § 168 Abs. 3 Satz 1 GWB) vertretungsberechtigt. Er ist auch intern die nach Vertretungserlass Niedersachsen Abschnitt III Abs. 4 Nr. 3, Vertretung des Landes durch nachgeordnete Stellen außerhalb gerichtlicher Verfahren (RdErl. d. StK vom 12.07.2012 – 201-01461/03 – (Nds. MBl. S. 578) VORIS 20120, zuletzt geändert durch ÄndRdErl. vom 23.03.2020 (Nds. MBl. 2021 S. 546) als eines der nachgeordneten Ämter des Niedersächsischen … und des Niedersächsischen … zuständige Behörde des Landes.

Der streitbefangene Auftrag übersteigt den für die Zuständigkeit der Vergabekammer maßgeblichen Schwellenwert gemäß § 106 Abs. 1 GWB. Der 4. Teil des GWB gilt nur für Aufträge, deren geschätzter Auftrags- oder Vertragswert ohne USt. die jeweiligen Schwellenwerte erreicht oder überschreitet, die nach den EU-Richtlinien festgelegt sind. Bei den ausgeschriebenen Leistungen handelt es sich um Bauleistungen, also um einen Bauauftrag i. S. d. § 103 Abs. 3 GWB. Für ihn gilt gemäß § 106 Abs. 2 Nr. 1 GWB i. V. m. Art. 4 der RL 2014/24/EU in der im Jahr 2022 geltenden Fassung ein Schwellenwert von 5.382.000 Euro netto. Diesen Wert übersteigt zwar nicht der hier streitige Auftrag (vgl. Ziffer II.2.6 Bekanntmachung), wohl aber das Volumen der gesamten Baumaßnahme (vgl. § 3 Abs. 6 VgV).

Die Antragstellerin ist gemäß § 160 Abs. 2 GWB antragsbefugt. Sie hat ein Interesse an dem Auftrag und sie hat fristgerecht ein Angebot abgegeben. Sie macht die Verletzung von Rechten durch die Nichtbeachtung von Vergabevorschriften geltend, indem sie die Beanstandungen gemäß Ziffer I erhebt. Der Antragsgegner habe eine Stoffpreisgleitklausel aufnehmen müssen.

Die Antragsbefugnis nach § 160 Abs. 2 GWB erfordert, dass der Antragsteller einen durch die behauptete Rechtsverletzung entstandenen oder drohenden Schaden darlegt. Er muss diejenigen Umstände aufzeigen, aus denen sich schlüssig die Möglichkeit eines solchen Schadens ergibt. An diese Voraussetzungen sind keine allzu hohen Anforderungen zu stellen. Es genügt, wenn der Bieter ein ernstzunehmendes Angebot abgegeben hat und schlüssig einen durch die behauptete Rechtsverletzung drohenden oder eingetretenen Schaden behauptet, also darlegt, dass durch den behaupteten Vergaberechtsverstoß seine Chancen auf den Zuschlag zumindest verschlechtert sein können (BVerfG, Urteil vom 29.07.2004 – 2 BvR 2248/04; Schäfer in: Röwekamp/Kus/Portz, GWB-Vergaberecht, § 160, Rn. 43 ff.). Ob tatsächlich der vom Bieter behauptete Schaden droht, ist nicht in der Zulässigkeit zu prüfen. Das ist eine Frage der Begründetheit (vgl. BGH, Beschluss vom 29.06.2006 – X ZB 14/06).

Die Antragsbefugnis entfällt nicht dadurch, dass die Antragstellerin trotz ihrer Kritik an den Vergabeunterlagen ein Angebot abgegeben hat. So wie einem Bieter, der wegen der angeblich vergaberechtswidrigen Unterlagen kein Angebot abgibt, das Interesse am Auftrag weiter zugesprochen wird (Kadenbach in: Willenbruch/Wieddekind, § 160, Rn. 29), so bleibt sie auch einem Bieter erhalten, der quasi unter Protest gegen bestimmte Inhalte der Vergabeunterlagen ein Angebot abgibt. Die Antragstellerin fordert hier weiter ein Verfahren mit Stoffpreisgleitklausel.

Die Antragstellerin hat die geltend gemachten Verstöße bezüglich der Wertung gegen die Vergaberechtsvorschriften gemäß § 160 Abs. 3 Satz 1 GWB vor Einreichen des Nachprüfungsantrags rechtzeitig gerügt. Gemäß § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 GWB muss der Bieter aus den Vergabeunterlagen erkennbare Verstöße gegen Vergabevorschriften vor Einreichen des Nachprüfungsantrags gegenüber dem Auftraggeber rügen. Dazu setzen ihm § 160 Abs. 3 Nr. 2, 3 GWB eine Frist bis zum Ablauf der Angebotsabgabefrist. Angaben zur Stoffpreisgleitklausel sind nur in den Vergabeunterlagen zu erwarten. Daher geht die Vergabekammer im Weiteren von der Anwendung des § 160 Abs. 3 Nr. 3 GWB aus.

Die Antragstellerin erhob nach anfänglichen Bieterfragen am 12.12.2022 eine Rüge. Zu diesem Zeitpunkt gab der Antragsgegner noch den ….2022 als Angebotsabgabefrist vor. Die Antragstellerin erhob ihre Rüge damit rechtzeitig i. S. d. § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 GWB. Die Rüge war ausdrücklich als solche bezeichnet und enthielt ein konkretes Verlangen, nämlich mit einer Stoffpreisgleitklausel ein ungewöhnliches Wagnis für die Kalkulation zu verhindern.

Die Antragstellerin erhob ihren Nachprüfungsantrag innerhalb der Frist des § 160 Abs. 3 Nr. 4 GWB. Nach der Nichtabhilfe der Bieterfragen vom 09.12.2022 erhob sie ihren Nachprüfungsantrag am 14.12.2022. Die Antragstellerin hielt also die Frist von 15 Tagen selbst dann ein, wenn man die ablehnende Antwort auf Bieterfragen bereits als Rügezurückweisung ansehen wollte. Der Nachprüfungsantrag ist somit zulässig.

2. Der Antragsgegner hat die Antragstellerin in ihren Rechten verletzt. Die Antragstellerin hat wie die Beigeladenen eigene bieterschützende Rechte aus § 97 Abs. 6 GWB. Diese bieterschützende Vorschrift verschafft ihnen einen Anspruch, dass der Antragsgegner die Bestimmungen über das Vergabeverfahren einhält. Hierzu gehört § 7 EU Abs. 1 Nr. 3 VOB/A als über § 113 GWB, § 2 VgV anzuwendende bieterschützende Vorschrift (vgl. Lampert in: Beck’scher Vergaberechtskommentar 3. Auflage 2019, VOB/A-EU, § 7, Rn. 51; Schranner in: Ingenstau/Korbion, VOB-Kommentar, § 7 EU VOB/A mit Verweis auf § 7 VOB/A, dort Rn. 41; offener Trutzel in: Ziekow/Völlink, Vergaberecht, VOB/A-EU, § 7 EU, Rn. 4).

Die Vergabekammer weist darauf hin, dass die auf der Seite des Antragsgegners eingeführten Erlasse keine unmittelbare normative Wirkung haben. Das gilt beginnend mit dem Erlass des BMWSB vom 25.03.2022 bis hin zu den vom Antragsgegner eingeführten Verfügungen des Niedersächsischen … vom 31.03.2022 und vom 06.07.2022. Es handelt sich um verwaltungsinternes Binnenrecht, dass von nachgeordneten Behörden verpflichtend anzuwendend ist, für außerhalb der Behördenhierarchie stehende Institutionen wie die Vergabekammer jedoch nicht zu einer Anwendungspflicht führt.

Überdies würde ein Bundeserlass, der unmittelbar die Landesverwaltungen binden wollte, gegen das haushalterische Selbstbestimmungsrecht des Landes verstoßen. Es bedarf daher zur Umsetzung in das Landesrecht einer Übernahmeregelung, so wie u.a. mit den Erlassen des niedersächsischen MF (2113-26041) geschehen (zuletzt mit Erlass vom 12.12.2022). Das … hat das mit Verfügung vom 31.03.2020 und vom 06.07.2022 nahtlos adaptiert. Die Vergabekammer berücksichtigt diese Verwaltungsvorschriften als wichtige Erkenntnisquellen, um daraus eine praxisnahe aktuelle Einschätzung der Situation zu gewinnen. Die Erlasse und Verfügungen sind daher aus Sicht der Vergabekammer nicht unmittelbar anzuwendendes Vergaberecht (vgl. VK Westfalen, Beschluss vom 12.07.2022, VK 3-24/22, Rn. 56), sondern unmittelbar zu würdigender Sachverhalt.

Nach § 7 EU Abs. 1 Nr. 3 VOB/A darf dem Auftragnehmer kein unzumutbares Wagnis aufgebürdet werden für Umstände und Ereignisse, auf die er keinen Einfluss hat und deren Einwirkungen auf die Preise er nicht im Voraus schätzen kann. Dieser Text gliedert sich in drei Tatbestandsvoraussetzungen, nämlich dass

1. der Auftraggeber dem Auftragnehmer ein Wagnis aufbürdet, sei es durch die Leistungsbeschreibung oder durch die Vertragsbedingungen;

2. die Umstände, die das Wagnis ausmachen, sich dem Einflussbereich des Auftragnehmers entziehen müssen,

3. das Wagnis dem Auftragnehmer eine fachgerechte Kostenschätzung und Preiskalkulation unter Einpreisung eines Wagnisvorbehalts unmöglich macht.

Hier besteht kein Zweifel daran, dass der Auftraggeber dem Auftragnehmer ein Wagnis auferlegt, indem er von den Anbietern feste Preise für alle Positionen des Leistungsverzeichnisses einfordert, obwohl durch den Krieg zwischen Russland und der Ukraine und die verhängten Sanktionen erhebliche Veränderungen in der Bitumenversorgung bestehen. Der Erlass des BMWSB vom 25.03.2022 spricht davon, dass rund 30% der hiesigen Bitumenversorgung in Abhängigkeit von Russland erfolgen. Auch unter Berücksichtigung von Kompensationsimporten aus anderen Ländern gehört Russland unverändert zu den weltweit größten Erdölproduzenten, so dass weiter ein Einfluss auf den hiesigen Markt, auch bei einem Importstopp, nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden kann.

Das Risiko ist für den vorliegenden Bauauftrag auch nicht unerheblich. Der Erlass des BMWSB vom 25.03.2022 sah unter Ziffer I.2. als Wesentlichkeitsschwelle vor, dass der Wert der Betriebsstoffe ein Prozent der geschätzten Auftragssumme übersteigen müsse. Dies wurde mit Erlass vom 22.06.2022 unter Ziffer II.2. auf 0,5 Prozent gesenkt. Hier beträgt der von der Vergabekammer anhand der vom Antragsgegner benannten Positionen des Leistungsverzeichnis geschätzte Wert der Bitumenprodukte mindestens 12% des Auftragswertes. Es handelt sich daher klar um eine kalkulationsrelevante Größe.

Ebenso ist für die Vergabekammer offensichtlich, dass sich die Umstände, die das Wagnis ausmachen, dem Einflussbereich des Auftragnehmers entziehen. Das Wagnis ist durch den Krieg zwischen Russland und der Ukraine entstanden. Kein Verfahrensbeteiligter hat hierauf Einfluss.

Die dritte Voraussetzung erfordert, dass das Wagnis dem Auftragnehmer eine fachgerechte Kostenschätzung und Preiskalkulation einschließlich eines angemessenen Wagnisvorbehalts unmöglich macht. Nur dies ist zwischen den Verfahrensbeteiligten streitig. Der Antragsgegner bestreitet ein solches Risiko. Er verweist darauf, dass er die Preisentwicklung der letzten Monate aus der Fachserie 17, Reihe 2 des Statistischen Bundesamts ausgewertet habe. Er habe eine Stabilisierung der Preisentwicklung festgestellt. Daher seien ungewöhnlichen Preisschwankungen nicht zu erwarten.

Zudem habe es elf Angebote mit festen Preisen gegeben, darunter das der Antragstellerin. Die geschätzte Vergabesumme sei deutlich unterschritten worden, auch durch das Angebot der Antragstellerin. Der Antragsgegner sieht sich dadurch in seiner Einschätzung bestätigt, dass die Unternehmer weniger Wagnis hätten.

Diese Herleitung ist folgerichtig, wäre zu einem Zeitpunkt ohne besondere Krise oder in einer Phase erkennbaren Abflauens einer punktuell aufgetretenen Krise nachvollziehbar und ermessensfehlerfrei.

Ohne Krise ist es ohne weiteres nachvollziehbar, aus einer stabilisierten preislichen Entwicklung der jüngsten Vergangenheit abzuleiten, dass diese preisliche Entwicklung auch in naher Zukunft stabil verlaufen werde.

Auch bei einer Krise in Form eines singulären Ereignisses wie einer Schiffshavarie oder einer einzelnen Naturkatastrophe ist es sehr gut nachvollziehbar, dass die Auswirkungen dieses Ereignisses mit zunehmendem zeitlichem Abstand zum Ereignis immer geringer ausfallen und sich stabilisieren werden. Die ungewöhnlich hohe Zahl der Angebote zu überdies günstigen Preisen deutet darauf hin, dass die am Markt tätigen Bieter die Marktlage so interpretieren. Das ist für die Bieter ohne weiteres zulässig, weil sie frei darin sind, wie sie anbieten möchten.

Das Vergaberecht verpflichtet in erster Linie den öffentlichen Auftraggeber, sich wettbewerbsrechtlich fair zu verhalten. Dazu gehört jedenfalls im Bauvergaberecht das Verbot der Aufbürdung eines ungewöhnlichen Wagnisses. Der Antragsgegner ist trotz Schriftsatznachlass der Aufforderung, die von ihm behaupteten Erlaubnistatbestände für den Verzicht auf die Vereinbarung einer Stoffpreisgleitklausel nachzuweisen, nicht nachgekommen. Die in der mündlichen Verhandlung und im nachgelassenen Schriftsatz von ihm dargestellten fünf Ausnahmetatbestände nach Erlasslage sind erfüllt.

Für die Annahme des Antragsgegners, die Stoffpreisgleitklausel sei nur für Preiserhöhungen und nicht für Preissenkungen anzuwenden, fehlt es an einer Grundlage. Die Auffassung erscheint insbesondere haushaltsrechtlich bedenklich, was aber hier nicht zu prüfen ist.

Das von ihm vorgelegte Besprechungsprotokoll vom Mai 2022 enthält einen kurzen Satz zur Anwendung der Stoffpreisgleitklausel, der sich zwanglos auch als Auftrag an den freien Planer verstehen lässt, die Ausführungsfristen so kurz zu setzen, dass die Anwendungsgrenze für die Stoffpreisgleitklausel von einem Monat unterschritten wird. Eine entsprechende Praxis hat der Antragsgegner in der mündlichen Verhandlung bereits mit der Abkehr von der frühzeitigen, langfristig projektierten Vergabe wichtiger Gewerke im Volumen von 80% der Kostenschätzung nach DIN 276 angedeutet.

Die Vergabekammer weist die Annahme des Antragsgegners aus der mündlichen Verhandlung, durch das Nachprüfungsverfahren entstünden möglicherweise Preissteigerungen, zurück. Der Antragsgegner ist der strukturierten Darstellung der Antragstellerin, es liege bereits jetzt eine Bauverzögerung vor, die zu Nachträgen nach VOB/B führen könne, nicht substantiiert entgegengetreten. Nachträge nach § 6 Abs. 5 VOB/B erscheinen daher bereits jetzt möglich.

Dem Antragsgegner steht mit der Anwendung der Stoffpreisgleitklausel ein schon länger eingeführtes, einfaches und effizientes Verfahren zur Verfügung, dass sowohl das Risiko von Preissteigerungen zugunsten des Auftragnehmers, als auch das Risiko von Preissenkungen zugunsten des Auftraggebers in fairer und transparenter Weise wettbewerbskonform verteilt.

Zu dem grundsätzlich anzuwendenden Verfahren nach Formblatt 225 VHB wurde jüngst eine weitere vereinfachte Möglichkeit nach dem Formblatt 225a VHB eingeführt, welches es dem Auftraggeber ermöglicht, für jeden Stoff (GPV) die preislichen Veränderungen zu ermitteln.

Bei Anwendung des Formblattes 225 VHB muss der Auftraggeber noch zum Zeitpunkt der Erstellung der Vergabeunterlagen für jeden Stoff einen Basiswert 1 ermitteln und vorgeben. Daraus errechnet er anhand des Vergleichs der Indexe mit der Formel:

Basiswert 1 x Index Eröffnung der Angebote = Basiswert 2

Index zum Zeitpunkt der Erstellung von Ausschreibungsunterlagen den Basiswert zwei, also den Indexwert zum Zeitpunkt der Angebotsabgabe. Daraus errechnet sich weiter mit der Formel:

Basiswert 2 x Index Abrechnungszeitpunkt = Basiswert 3

Index Eröffnung der Angebote der Basiswert 3 zum Zeitpunkt der Leistungserbringung durch den Auftragnehmer.

Letzteres ist der Preis, der abzurechnen ist. Die Mehr- und Minderkostenberechnung nach Formblatt 225 VHB ist vom Angebot abgekoppelt und erfolgt bei Rechnungsstellung separat als eine zusätzliche OZ (für alle Bieter gleich). Nur der Index und die Mengen sind variabel.

Das neue Formblatt 225a VHB ist für den Auftraggeber einfacher. Es verzichtet auf die Ermittlung und Vorgabe des Basiswerts 1. Hier gibt jeder Bieter seinen Basiswert 2 ein. Es folgt die obige Berechnung. Weder die Antragstellerin noch die Vergabekammer können den Umstand beeinflussen, dass es nach Darstellung des Antraggegners hierfür noch kein vorgefertigtes Tool gebe (vgl. aber Verfügung … vom 06.07.2022, Blatt 3 VHB Arbeitshilfe).

Der Antragsgegner hat mit der Einwendung aus der mündlichen Verhandlung nicht überzeugen können, er sei berechtigt, die von ihm erwarteten Preissteigerungen und Preissenkungen zu saldieren und deshalb auf die Vereinbarung einer Preisgleitklausel zu verzichten. Eine Sicherheit oder Wahrscheinlichkeit, dass den möglicherweise steigenden Preisen andere sinkende Preise entgegenstehen, gibt es nicht. Es handelt sich um eine Spekulation des Antragsgegners, für die er keine sachliche Grundlage hat benennen können. Der Antragsgegner hat auch mit nachgelassenem Schriftsatz nicht mit vergaberechtlichen Argumenten überzeugend erläutern können, warum er die Vereinbarung einer Stoffpreisgleitklausel ablehnt.

Die lineare Prognose aus den Ereignissen der Vergangenheit auf die Ereignisse der Zukunft ist bei dem Krieg zwischen Russland und der Ukraine unmöglich, weil der unberechenbare Verlauf des Krieges einschließlich der ebenfalls unberechenbaren wirtschaftlichen Folgen jederzeit zu nicht vorhersehbaren spontanen Erweiterungen führen kann. Es ist jederzeit möglich, dass nach dem Wegfall von 30% bisherigen Bitumenversorgung der Markt weitere Veränderungen erleidet, die zu großen Preisausschlägen führen können.

Die hier vorliegende Vergabe ohne Berücksichtigung einer Stoffpreisgleitklausel greift in den Wettbewerb ein, weil sie Bieter bevorteilt, die in der Lage sind, sich mit einer erheblichen Materialbevorratung von kurzfristigen Preisschwankungen unabhängig zu machen. Dies verstößt tendenziell gegen § 97 Abs. 4 GWB, die Verpflichtung, mittelständische Unternehmen zu fördern. Der Konflikt wurde in der mündlichen Verhandlung deutlich, als die Beigeladene zu 1 auf ihre umfangreichen Lagermöglichkeiten verweisen konnte. Die Vergabekammer hat allerdings keinen Zweifel daran, dass auch die Beigeladene zu 1 zum Mittelstand gemäß der Definition des Statistischen Bundesamts in Anlehnung an die Empfehlung (2003/361/EG) der Europäischen Kommission (weniger als 250 Mitarbeiter und weniger als 50 Mio. Umsatz jährlich) gehört.

Zwar hat der BGH in zwei Entscheidungen zu Sachverhalten des Jahres 2008 (Urteil vom 01.10.2014, VII ZR 344/13; Urteil vom 24.01.2018, VII ZR 219/14) entschieden, dass eine Stoffpreisgleitklausel überraschend im Sinne des § 305c BGB sei und nicht Vertragsbestandteil werde. Bei seiner Entscheidung im Jahr 2014 nahm der BGH an, dass eine ARGE aus zwei großen Bauunternehmen eine Stoffpreisgleitklausel nicht erkennen könne, auch wenn neben der vertraglichen Regelung den Ausschreibungsunterlagen ausdrücklich ein Verzeichnis für die Stoffpreisgleitklausel und ein Berechnungsbeispiel beigefügt war. Die seinerzeit verwendete Stoffpreisgleitklausel habe dazu geführt, dass der Auftragnehmer bei der Bildung seiner Angebotspreise nicht auf die Einkaufspreise zum Zeitpunkt seiner Angebotsabgabe abstellen konnte, sondern den vom Auftraggeber festgesetzten Marktpreis zugrunde legen musste. Andernfalls wäre er bei fallenden Stoffpreisen Gefahr gelaufen, eine geringere Vergütung als seinen tatsächlichen Einkaufspreis zu erhalten. Bei einer Halbierung des Marktpreises sei es möglich, dass der Auftragnehmer für seine erbrachte Leistung keine Gegenleistung erlange. In der späteren Entscheidung (Urteil vom 24.01.2018, VII ZR 219/14) ging es um eine ähnliche Stoffpreisgleitklausel. Der BGH ging auch hier davon aus, dass es sich um eine überraschende Klausel im Sinne des § 305c BGB handele. Zwar habe der Auftraggeber den aktuell ermittelten und realistischen Preis zugrunde gelegt, jedoch sei der Berechnungsmodus ungewöhnlich. Trotz branchenüblicher Verwendung sei die Stoffpreisgleitklausel für den vertragstypischen Durchschnittskunden, also Bauunternehmer überraschend.

Die Kritik des BGH ist auf den hier vorliegenden Fall nicht übertragbar. Der Berechnungsmodus ist hier einfacher als in den vom BGH entschiedenen Einzelfällen. Eine generalisierende Übertragung der Rechtsprechung des BGH auf den vorliegenden Fall ist daher nicht geboten.

Die VK Bund entschied mit Beschluss vom 19.10.2022 (VK 1-85/22), dass in dem dort anhängigen Fall der Unternehmer keinen Anspruch auf eine Preisanpassungsklausel habe. Nachdem bei der Vergabe von Lieferleistungen das allgemeine Verbot für öffentliche Auftraggeber, den Bietern ungewöhnliche Wagnisse aufzubürden entfallen ist, sei eine Preisanpassungsklausel nur dann anzuordnen, wenn den Bietern eine vernünftige kaufmännische Kalkulation unzumutbar sei. Der Antragstellerin sei eine Kalkulation trotz der aktuell gestiegenen Preise möglich, weil sie in der laufenden Angebotsabgabefrist die Preiserhöhung bereits in der Kalkulation des Angebots berücksichtigen könne. Außerdem sei sie mit den fest anzubietenden Preisen nicht für die gesamte Vertragslaufzeit von drei Jahren gebunden. Sie könne den Vertrag bereits vorzeitig bis zum Ablauf eines jeden Kalenderjahres kündigen. Überdies sei eine Preisanpassung gemäß § 313 BGB nicht ausgeschlossen. Störungen in der Lieferkette seien kein Grund für eine Preisanpassung, denn eine Preisanpassung löse nicht das Problem, dass ein Produkt nicht mehr lieferbar sei. Die Kalkulation von Risikoaufschlägen führe nicht dazu, dass die Angebote in vergaberechtlich bedenklicher Weise nicht vergleichbar seien. Unterschiedliche Risikoannahmen einzelner Unternehmen seien nicht auf ein mögliches vergaberechtswidriges Verhalten des Auftraggebers zurückzuführen, sondern auf die unternehmerische Freiheit der Bieter.

Auch dieser Fall ist hier nicht übertragbar, weil in der VgV eine dem § 7 EU Abs. 1 Nr. 3 VOB/A vergleichbare Regelung fehlt.

Die Vergabekammer Westfalen (Beschluss vom 12.07.2022, VK 3-24/22) hat für einen Bauauftrag entschieden, dass der Ukrainekrieg als Ereignis anzusehen ist, dass der Antragstellerin ohne Preisgleitklausel eine kaufmännisch vernünftige Kalkulation jedenfalls im April 2022 unmöglich machte. Dem folgt die Vergabekammer Niedersachsen auch für die aktuelle Lage, weil der Krieg nicht vorbei ist, und das BMWBS seine Einschätzung im jüngsten Erlass wieder verlängert hat.

3. Gemäß § 168 GWB trifft die Vergabekammer die geeigneten Maßnahmen, um eine Rechtsverletzung zu beseitigen und eine Schädigung der betroffenen Interessen zu verhindern. Sie ist dabei an die Anträge nicht gebunden und kann auch unabhängig davon auf die Rechtmäßigkeit des Vergabeverfahrens einwirken.

Hier liegt ein Grund vor, mit Maßnahmen auf die Rechtmäßigkeit des Verfahrens einzuwirken. Die Zurückversetzung auf den Zeitpunkt vor Versand der Vergabeunterlagen ist das mildeste der geeigneten Mittel um die streitgegenständlichen Rechtsverletzungen zu heilen, weil die festgestellten und zuvor gerügten Fehler nicht in der Bekanntmachung, sondern nur in der Gestaltung der Vergabeunterlagen liegen. Eine weitere Zurückversetzung aus eigener Intention steht im freien Ermessen des Antragsgegners.

4. Zur Vermeidung weiterer Nachprüfungsverfahren gibt die Vergabekammer folgenden Hinweis:

Nach Ziffer 4 des Formblatts 242 möchte der Antragsgegner bei der Wertung der Preise nicht nur die Bauleistungspreise würdigen, sondern auch den abgeforderten Wartungspreis für 4 Jahre. Das ist im Sinne des § 16d EU Abs. 2 Nr. 6 VOB/A zulässig und zu begrüßen, sollte im weiteren Verfahren auch so angewandt werden.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 182 GWB.

Die in Ziffer 2 des Tenors festgesetzte Gebühr ergibt sich aus einer Interpolation des Auftragswertes innerhalb des Gebührenrahmens gemäß § 182 Abs. 2 GWB. Die von der Vergabekammer festzusetzende regelmäßige Mindestgebühr beträgt 2.500 Euro, die Höchstgebühr 50.000 Euro und die Höchstgebühr in Ausnahmefällen 100.000 Euro.

Die Gebührenermittlung erfolgt anhand einer Gebührentabelle des Bundeskartellamtes in der zzt. gültigen Fassung vom Dezember 2009. Hiernach wird der Mindestgebühr von 2.500 Euro eine Ausschreibungssumme von bis zu 80.000 Euro zugeordnet und dem regelmäßigen Höchstwert von 50.000 Euro eine Ausschreibungssumme von 70 Mio. Euro (höchste Summe der Nachprüfungsfälle 1996 – 1998) gegenübergestellt. Dazwischen wird interpoliert.

Nach dem Angebot der Antragstellerin beträgt ihr Angebotspreis einschließlich der Wartungskosten für 4 Jahre … Euro brutto. Dieser Betrag entspricht dem mutmaßlichen Interesse der Antragstellerin am Auftrag. Somit beträgt der Verfahrenswert … Euro brutto.

Bei einer Vergabesumme von … Euro brutto ergibt sich eine Gebühr in Höhe von … Euro. Diese Gebühr schließt einen durchschnittlichen sachlichen und personellen Aufwand ein. Gutachterkosten oder Kosten durch Zeugenvernehmungen in der mündlichen Verhandlung sind nicht angefallen.

Die in Ziffer 3 des Tenors verfügte Kostenlast folgt aus § 182 Abs. 3 Satz 1 GWB. Danach hat ein Beteiligter, soweit er im Nachprüfungsverfahren unterliegt, die Kosten zu tragen. Der Begriff der Kosten umfasst sowohl die Gebühren, als auch die Auslagen der Vergabekammer.

Der Antragsgegner ist jedoch von der Pflicht zur Entrichtung der Kosten gemäß § 182 Abs. 1 Satz 2 GWB i. V. m. § 8 Abs. 1 Nr. 3 BVerwKostG befreit (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 13.07.2005, Az.: 13 Verg 9/05; OLG Dresden, Beschluss vom 25.01.2005, Az.: WVerg 0014/04). Zwar ist das BVerwKostG mit Wirkung vom 15.08.2013 aufgehoben worden, jedoch ist es aufgrund der starren Verweisung aus § 182 Abs. 1 Satz 2 GWB auf das BVerwKostG in der Fassung vom 14.08.2013 hier weiter anzuwenden. Inhaltlich entspricht die dortige Regelung § 8 BGebG.

Gemäß Ziffer 4 des Tenors hat der Antragsgegner der Antragstellerin die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen notwendigen Aufwendungen gemäß § 182 Abs. 4 Satz 1 GWB zu erstatten. Aufwendungen der Beigeladenen zu 1 sind nicht erstattungsfähig. Sie hat zwar an der mündlichen Verhandlung aktiv teilgenommen, aber keinen Antrag gestellt.

IV.

(…)