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VK Südbayern zur Auftragswertschätzung, die ganz knapp unter den EU-Schwellenwerten liegt

vorgestellt von Thomas Ax

Eine Auftragswertschätzung, die ganz knapp unter den EU-Schwellenwerten liegt und in einem Verfahren erfolgt, in dem der Auftraggeber ein großes Interesse daran hat, unterhalb der Schwellenwerte zu bleiben, bedarf einer besonders sorgfältigen Dokumentation. Dokumentiert der Auftraggeber zwar die Positionen, welche in die Schätzung des Auftragswerts eingeflossen sind, fehlen aber wichtige Erläuterungen dazu, welche Annahmen er bei den ausgewiesenen Beträgen zugrunde gelegt hat, ist die Auftragswertschätzung nicht nachvollziehbar. Fehlt es an einer ordnungsgemäßen oder plausiblen Auftragsschätzung, muss die Vergabekammer im Nachprüfungsverfahren den Auftragswert selbst anhand der eingegangenen Angebote schätzen. Leistungen des öffentlichen Auftraggebers, die zu entsprechenden Einsparungen oder Aufwandsminderungen beim Auftragnehmer führen, stellen einen geldwerten Vorteil dar, der bei der Kostenschätzung zu berücksichtigen ist.

VK Südbayern, Beschluss vom 08.12.2022 – 3194.Z3-3_01-22-23

Gründe:

I.

Am 31.03.2022 beauftragte die Antragsgegnerin die Beigeladene im Wege einer Direktvergabe mit der Bereitstellung eines Softwaresystems zur standardisierten Notrufabfrage (SNA) für die integrierte Leitstelle (ILS) M… Der Auftrag umfasste unter anderem den Erwerb von 27 Lizenzen der von der Beigeladenen vertriebenen Software nebst Schulung sowie die Implementierung einer Schnittstelle zum Einsatzleitsystem (ELS) „ELDIS3by“. Der Vertrag wurde geschlossen, ohne dass die Antragsgegnerin zuvor eine Auftragsbekanntmachung im EU-Amtsblatt veröffentlicht hatte. Auch eine öffentliche Bekanntmachung des vergebenen Auftrags erfolgte nicht. Ausweislich eines Vermerks über die Auftragswertberechnung nach § 3 VgV schätzte die Antragsgegnerin den Auftragswert auf 210.600 Euro. In einer Vormerkung vom 24.03.2022 zur Auftragsvergabe führte die Antragsgegnerin folgendes aus:

„Aktuell steigen die Corona-Fallzahlen rasant an und damit die Ausfallzahlen in den kritischen Infrastrukturen, wie Feuerwehr und Polizei. Die Einsatzkräfte, die sich noch im Einsatz befinden, sind damit stärkeren Belastungen ausgesetzt, einer Abhilfe durch aktiven Schutz dem entgegen zu wirken, jedoch nicht. Das problematische Thema wird durch die Ukraine-Situation weithin verschärft. Damit menschliche Fehler nicht überhand nehmen und die personelle Lage nicht unter der jetzigen Situation leidet, muss schnellst möglich und ohne weitere Verzögerung ein IT gestützter Hilfeservice eingekauft und bereit gestellt werden.

Bei mehreren Feuerwehren in Ländern mit hohen Coronafallzahlen der Omikronvariante. wie in London und Amsterdam gibt es mittlerweile Personalausfallquoten, die im kritischen Bereich liegen, um eine adäquate Hilfe leisten zu können. Sollte die Krankheitsquote in der BD ansteigen, würde bei der ILS im Extremfall nicht genug Personal vorhanden sein, um alle Notrufe annehmen zu können – die Durchhaltefähigkeit wäre gefährdet.

Um die Durchhaltefähigkeit der Integrierte Leitstelle M… (ILS) zu unterstützen, strebt die Branddirektion M… eine außerplanmäßige Beschaffung einer Software zur standardisierten Notrufabfrage mit Qualitätsmanagementmodul an. Mittels dieser Software wird die/der Mitarbeiter*in der ILS bei der Abarbeitung des Notrufs unterstützt, wodurch bei hohen Ausfallquoten im Personalbereich, eine größere Anzahl zusätzlicher Mitarbeiter deutlich schneller und effizienter als ohne die Software für die Notrufabfrage qualifiziert werden können. Dies ermöglicht es, auch bei hohem Personalausfall durch Covid-19, die schnelle Erreichbarkeit der 112 in M… durchgehend gewährleisten zu können. Die Software führt den Benutzer anhand von fachbezogenen Fragen effizient und strukturiert zum optimalen Notrufergebnis, zu dem das passende Rettungsmittel alarmiert werden kann.

Ziel der Beschaffung ist eine zügige Bereitstellung der Software, die über eine Schnittstelle an der Einsatzleitsoftware angebunden wird. Die Beschaffung muss deshalb bei einem Lieferanten erfolgen, die nicht nur der Software, sondern auch der Schnittstelle zu ELDIS3by sofort zur Verfügung stellen kann und ggf. die Initial-Datenversorgung des Systems teils automatisiert unterstützen kann. …“


Bereits Anfang des Jahres 2021 plante die Branddirektion der Antragsgegnerin die Beschaffung eines Systems für die standardisierte Notrufabfrage und meldete einen entsprechenden Bedarf bei der zuständigen Vergabestelle an. Ende des Jahres 2021 überarbeitete die Antragsgegnerin die Vergabeunterlagen. Im Februar 2022 übersandte die Antragsgegnerin der Beigeladenen einen Katalog mit technischen und fachlichen Anforderungen an die zu beschaffende Leistung. Hierin war in einer Randbemerkung zu Anforderung Nr. 28 betreffend die Schnittstelle zum Einsatzleitsystem unter anderem folgendes vermerkt:

„Die Kommunikation zwischen dem ELS und der SNA erfolgt über eine zu erstellende Schnittstelle. Die Schnittstelle von der SNA zum ELS muss überwacht werden. Dem Disponenten muss erkennbar gezeigt werden, ob eine Verbindung zum ELS besteht (z.B. Ampelanzeige). Der Bieter muss in Absprache mit dem Hersteller des ELS eine bidirektional funktionierende Schnittstelle bereitstellen. Ferner sind alle mit der Schnittstelle verbundenen Kosten, auch die des Herstellers des Einsatzleitsystems (Zertifizierung, Anpassung, Funktionstests), vom Bieter zu tragen und im Angebot darzustellen.“

Mit Schreiben vom 26.04.2022 rügte die Antragstellerin vertreten durch ihre Verfahrensbevollmächtigten die Direktvergabe einer standardisierten Notrufabfrage ohne Wettbewerb an die Beigeladene und forderte sie auf, den Zuschlag aufzuheben und ein ordnungsgemäßes Vergabeverfahren durchzuführen. Sie machte geltend, dass der Wert des ausgeschriebenen Auftrags bei ordnungsgemäßer Schätzung gemäß § 3 VgV über dem EU-Schwellenwert von 215.000 Euro liege. Damit seien die Regelungen des vierten Teils des GWB sowie der VgV zu beachten. Der Auftrag habe im Amtsblatt der Europäischen Union bekannt gemacht werden müssen. Eine Ausnahme von der Bekanntmachungspflicht sei nicht erkennbar.

Mit Schreiben per E-Mail vom 02.05.2022 antwortete die Antragsgegnerin der Antragstellerin, dass die Vergabe des Auftrags an die Beigeladene vor allem auf den Erfahrungen und Informationen im Zusammenhang mit der Ausbreitung der Omikron-Variante beruhe. Einzelne Großstadtfeuerwehren erlebten derzeit dramatische Personalausfälle, die im absolut kritischen Bereich lägen. Sollte eine ähnliche Krankheitsquote auch die Berufsfeuerwehr der Antragsgegnerin ereilen, stünde der Leitstelle im Extremfall nicht ausreichend Personal zur Verfügung, um alle Notrufe annehmen zu können. Die Sicherheit der M… Bürgerinnen und Bürger wäre somit akut gefährdet. Die Entscheidung der Antragsgegnerin sei einzig auf dem akuten Druck getroffen worden, die Software schnellstmöglich in der Leitstelle einzurichten, zumal der weitere Verlauf des Pandemie-Geschehens unberechenbar sei und in diesem Zusammenhang auch nicht erkennbar sei, wann und in welcher Intensität die nächste Pandemiewelle eintreffe. Die Software müsse über eine Schnittstelle an die vorhandene Einsatzleitsoftware angebunden werden. Die Beschaffung habe deshalb bei einem Anbieter erfolgen müssen, der nicht nur die Software, sondern auch die Schnittstelle zu „ELDIS3by“ sofort zur Verfügung stellen könne. Aufwendige Programmierungen und Anpassungen hätten aufgrund der zeitlichen Dringlichkeit nicht anfallen dürfen. Der Hersteller der Schnittstelle „ELDIS3by“ habe die Schnittstellenkompatibilität der Software der Auftragnehmerin bestätigt und gleichzeitig betont, dass die Software zum aktuellen Zeitpunkt die einzige sei, welche eine Schnittstelle an „ELDIS3by“ besitze.

Aufgrund eines Informationsaustausches mit einer anderen Berufsfeuerwehr in Bayern und den der Antragsgegnerin vorliegenden Erkenntnissen, sei sie auf einen Netto-Auftragswert von 200.000 bis 210.000 Euro gekommen. Beschaffungen von Liefer- und Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Corona-Krise dürften nach den derzeitigen Regelungen für Vergaben unterhalb des Schwellenwerts im Wege einer Verhandlungsvergabe mit oder ohne Teilnahmewettbewerb vergeben werden. Die Notwendigkeit zur Beschaffung der Software liege in der Corona-Krise begründet.

Nachdem der Rüge der Antragstellerin nicht abgeholfen wurde, stellte diese mit Schreiben vom 17.05.2022 einen Nachprüfungsantrag gem. § 160 Abs. 1 GWB.

Zur Begründung führt die Antragstellerin aus, dass sie Anbieterin moderner Software zur standardisierten Notrufabfrage mit Qualitätsmanagement sei und Interesse an dem streitgegenständlichen Auftrag habe. Die Antragsgegnerin habe nach eigenen Angaben in Kalenderwoche 13 die Beigeladene im Wege der Direktvergabe mit der Bereitstellung eines Systems für die standardisierte Notrufabfrage für die Leitstelle M… beauftragt. Der Vertrag sei geschlossen worden, ohne dass die Antragsgegnerin zuvor eine Auftragsbekanntmachung im EU-Amtsblatt veröffentlicht habe.

Der Nachprüfungsantrag sei zulässig; insbesondere sei der für die Anwendbarkeit des vierten Teils des GWB erforderliche Schwellenwert überschritten. Dies erschließe sich durch einen Blick auf vergebene Aufträge anderer Leitstellen der letzten Jahre, die Systeme wie das streitgegenständliche zum Gegenstand gehabt hätten. Der marktübliche Preis eines Einsatzleitplatzes liege bei etwa … Euro; jener für einen Sonderleitplatz bei … Euro. Aus Erfahrungen der Antragstellerin, welche als Marktführerin in diesem Bereich für deutsche Systeme die Preise gut einschätzen könne, würden die Wartungskosten im Monat für eine Leitstelle der Größe M… mindestens … Euro betragen. Hinzu kämen Schulungskosten von etwa … Euro je Disponent, Dienstleistungen für Projekttage zur Projektumsetzung von … Euro pro Tag sowie der Preis für die Schnittstelle zum Einsatzleitsystem ELDIS3by in Höhe von etwa … Euro. Ausgehend von den benötigten Lizenzen für 20 Einsatzleitplätze und 10 Sonderleitplätze, einem Wartungsumfang von 48 Monaten, der Schulung von 150 Disponenten und vier Projekttagen zur Projektumsetzung betrage der Auftragswert nach Berechnung der Antragstellerin insgesamt 381.200 Euro.

Entgegen der Ansicht der Beigeladenen sei ein Rückgriff auf den Auftragswert bzw. die Preise durchgeführter Vergaben in anderen Leitstellen zur Schätzung des Auftragswerts im konkreten Vergabeverfahren möglich. Die Antragsgegnerin habe selber auf die Erfahrungen der Feuerwehr N… zurückgegriffen und deren Vergabeunterlagen als Basis für ihre eigene Kalkulation verwendet. Für die Schätzung des Auftragswerts müssten aufgrund der Vorgaben des § 3 Abs. 2 VgV neben den Lizenzen auch die dazugehörigen Schulungen berücksichtigt werden; erst die Schulung ermögliche den Gebrauch der Software.

Der Nachprüfungsantrag sei auch begründet, da die Antragsgegnerin trotz Überschreitens des maßgeblichen Schwellenwerts von derzeit 215.000 Euro netto den Auftrag ohne vorherige Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union vergeben habe. Es läge auch keine Ausnahme von der Pflicht zur unionsweiten Bekanntgabe vor. Insbesondere könne sich die Antragsgegnerin nicht auf eine Dringlichkeit nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV stützen, da die von der Antragsgegnerin angeführten Gründe die strengen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Ausnahmetatbestandes nicht erfüllten. Ein etwaiger auftretender Personalausfall könne durch die Software nicht ersetzt werden, denn auch diese müsse bedient und neue Mitarbeiter entsprechend geschult werden. Der zeitliche Vorteil, den die Antragsgegnerin durch den Einsatz der Software sehe, sei verschwindend gering. Zudem sei die von der Antragsgegnerin beschriebene Situation im Hinblick auf den drohenden Personalausfall aufgrund der Ausbreitung der Omikron-Variante zum jetzigen Zeitpunkt nicht nachvollziehbar. Es erschließe sich nicht, warum in einem Moment, in dem sich die allgemeine Pandemie-Situation entspanne, eine besondere Dringlichkeit gegeben sein solle. Ungeachtet dessen sei die Situation für die Antragsgegnerin jedenfalls vorhersehbar gewesen und ein akuter Zeitdruck damit auf eine Untätigkeit der Antragsgegnerin zurückzuführen. Auch hätte die Antragsgegnerin den Kreis der aufzufordern Unternehmen auf eine angemessene Zahl festlegen müssen, um ein Mindestmaß an Wettbewerb zu gewährleisten.

Die Antragsgegnerin könne sich auch nicht auf § 14 Abs. 4 Nr. 2 b) VgV berufen. Seit Dezember 2021 sei öffentlich bekannt, dass auch zum System der standardisierten Notrufabfrage der Antragstellerin eine Schnittstelle zu ELDIS3 entwickelt werde. Der hierfür nötige Zeitaufwand betrage insgesamt maximal 15 Manntage. Die Schnittstelle zu ELDIS3by ähnele sehr der bereits existierenden Schnittstelle der Software der Antragstellerin zum ELDIS in Schleswig-Holstein. Soweit die Beigeladene mit ihrem Vortrag den Eindruck vermittle, dass allein sie dazu in der Lage wäre, den streitgegenständlichen Auftrag auszuführen, sei dem entschieden zu widersprechen. Die Antragsgegnerin habe nach Angaben der Beigeladenen diese am 10.01.2022 um ein Angebot für die Ausstattung der Leitstelle M… mit einer standardisierten Notrufabfrage-Software gebeten und erst mit Schreiben vom 31.03.2022 mit der Lieferung einer solchen beauftragt. In dieser Zeit hätte ohne weiteres eine derartige Schnittstelle zwischen der Software der Antragstellerin zu ELDIS3by entwickelt werden können. Zudem sei zu erwarten, dass eine Schnittstelle zu ELDIS3by aufgrund der Einführung eines neuen ELS in Bayern alsbald hinfällig werde. Soweit vorgebracht werde, dass bei einer Beauftragung der Beigeladenen eine Datenübernahme aus der ILS N… möglich sei, wodurch erheblicher Zeitaufwand bei der Datenpflege entfallen würde, sei darauf hinzuweisen, dass die Antragstellerin aufgrund ihrer personellen und fachlichen Ausstattung dazu in der Lage sei, die angesprochenen Datenpflegearbeiten innerhalb von maximal 20 Manntagen durchzuführen.

Letztlich liege ein Verstoß gegen § 6 VgV vor, da ein freiberuflich verantwortlicher Projektleiter der Beigeladenen vor und während des Verfahrens für die Antragsgegnerin tätig gewesen sei. Der Geschäftsführer der Antragstellerin sei hingegen – entgegen etwaigem anderslautenden Vortrag – kein Angestellter der Berufsfeuerwehr M… Die Akteneinsicht habe gezeigt, dass diverse Unstimmigkeiten in der Auftragswertberechnung bestünden. Gegenüber der ursprünglichen Planung sei der Leistungsumfang deutlich reduziert worden; es seien im März 2022 rund neun Lizenzen weniger für eine Regel-Leitstelle (ELP) beauftragt worden als noch im Dezember 2021 vorgesehen. Lizenzen für Sonder-Leitplätze (ANA) und Schulungsplätze seien komplett weggefallen. Auch habe man im Dezember 2021 noch Schulungen für 150 Disponenten für erforderlich gehalten, ausgeschrieben habe die Antragsgegnerin aber lediglich Schulungen für insgesamt 46 Disponenten. Zudem weise die Auftragswertberechnung im Bereich der Schulungen bezüglich der rechnerischen Zusammensetzung des Gesamtpreises Unstimmigkeiten auf, was belege, dass die Antragsgegnerin keine ordnungsgemäße qualifizierte Schätzung des Auftragswerts nach den Anforderungen des § 3 Abs. 1 VgV vorgenommen habe. Weiterhin falle auf, dass die Berechnung der Wartungskosten von insgesamt … Euro unplausibel sei. Wartungskosten würden üblicherweise 15 bis 25 Prozent des Lizenzpreises ausmachen. Die Antragsgegnerin habe dagegen lediglich 0,39% der Lizenzkosten als Servicepauschale veranschlagt. Die Kosten für die Wartung und Software-Pflege der ELDIS3by-Schnittstelle fehlten komplett, obwohl eine solche üblicherweise mit abgeschlossen werde, um die volle Funktionsfähigkeit der Schnittstelle zu gewährleisten. Diese Leistungen beliefen sich auf etwa … Euro pro Jahr.

Aus der zur Einsicht überlassenen internen Korrespondenz der Vergabestelle der Antragsgegnerin gehe hervor, dass der Bedarf zur Beschaffung eines Systems zur standardisierten Notrufabfrage für die ILS M… bereits weitaus länger bestanden habe als erst seit Anfang des Jahres 2022. Der Beschaffungsauftrag sei bereits im Januar 2021 ausgestellt worden. Als Beschaffungszeitpunkt sei der 01.10.2021 angegeben. Wie aus der freigegebenen Korrespondenz der Antragsgegnerin hervorgehe, habe sich diese erst im November 2021 intensiver mit dem Beschaffungsvorgang beschäftigt. Es sei vor dem Hintergrund des Pandemiegeschehens schwer nachvollziehbar, warum die Antragsgegnerin den Beschaffungsvorgang offenbar nahezu zehn Monate ruhen ließ. Auch falle auf, dass die Antragsgegnerin bis mindestens Dezember 2021 noch von einer Ausschreibung ausgegangen sei, welche am 10.01.2022 in der eVergabe veröffentlicht werden sollte. Als Anfang des Jahres 2022 die Entscheidung getroffen worden sei, dass der Auftrag im Rahmen einer Direktvergabe an die Beigeladene vergeben werden soll, sei der Leistungsumfang des Auftrags um nahezu die Hälfte der Leistungen gekürzt worden, um die Direktvergabe zu ermöglichen. Die E-Mail der Antragsgegnerin vom 23.03.2022 lege nahe, dass vorrangiger Grund für die Eilbedürftigkeit der Beauftragung nicht die behauptete Situation aufgrund der Pandemie gewesen sei, sondern die bis zum 31.03.2022 begrenzte Gültigkeit der Sonderregelung für Coronabezogene Vergaben, welche eine Direktvergabe solcher Aufträge erleichterte. Jedenfalls sei jegliche Dringlichkeit der Beschaffung von der Antragsgegnerin selbst verschuldet, indem sie über lange Zeit hinweg untätig geblieben sei. Die Antragsgegnerin hätte innerhalb der rund 11 Monate, in denen der Vorgang offenbar ruhte, ein reguläres europaweites Vergabeverfahren durchführen können. Die Antragsgegnerin habe jedenfalls im Januar 2021 um die Personalsituation sowie um die damit verbundenen Herausforderungen der Corona-Pandemie gewusst. Dennoch habe die Antragsgegnerin offenbar keinen Grund gesehen, die Vergabe entsprechend zügig voranzutreiben.


Die Antragstellerin beantragt

1. gegen die Antragsgegnerin das Nachprüfungsverfahren einzuleiten;

2. die Feststellung der Unwirksamkeit des an die Beizuladenden vergebenen öffentlichen Auftrags nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB;

3. die Antragsgegnerin zu verpflichten, bei fortbestehender Beschaffungsabsicht den öffentlichen Auftrag über eine standardisierte Notrufabfrage für die Leitstelle M… in einem europaweiten Vergabeverfahren nach den Vorschriften des 4. Teils des GWB und der VgV auszuschreiben;

4. der Antragstellerin Akteneinsicht gem. § 165 GWB zu gewähren;

5. die Hinzuziehung des Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin für notwendig zu erklären;

6. der Antragsgegnerin die Kosten des Verfahrens vor der Vergabekammer und die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen der Antragstellerin aufzuerlegen.


Die Antragsgegnerin beantragt

1. Die Anträge Ziff. 1 – 4 vom 17.05.2022 werden zurückgewiesen;

2. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.


Zur Begründung führt die Antragsgegnerin aus, dass der Nachprüfungsantrag unzulässig sei. Die Branddirektion der Antragsgegnerin habe den Auftragswert nach bestem Wissen und Gewissen geschätzt. Die Ausschreibung sei unter den aktuellen Zwängen einer extrem angespannten Haushaltslage erfolgt, so dass der Leistungsumfang auf das absolut Notwendige zu reduzieren gewesen sei. Basis für die Kalkulation seien Vergabeunterlagen der Feuerwehr N… gewesen. Das dort angenommene Angebot sei um alle Leistungen und Komponenten reduziert worden, welche die Antragsgegnerin selbst erbringen könne. Sowohl die Schätzung des Auftragswertes als auch das Angebot der Beigeladenen lägen nicht weit auseinander. Entgegen dem Vortrag der Antragstellerin seien in der Berechnung des Auftragswerts sowohl die Lizenzen für die SNA-Software als auch Schulungen für Anwender, Multiplikatoren und Administratoren enthalten. Ebenso sei die Wartung und Pflege gemäß EVB-IT-AGB im Auftrag enthalten. Kosten für Hardwarekomponenten seien nicht in die Auftragswertberechnung aufzunehmen gewesen, da die nötige Hardware bei der Antragsgegnerin vorhanden sei.

Die Reduktion der Anzahl an zu beschaffenden Lizenzen basiere auf dem Umstand, dass anders als ursprünglich angenommen eine Beschaffung von Lizenzen für die Not-Leitstelle nicht notwendig sei, da diese vollständig als Rückfallebene zu betrachten sei. Bei den beschafften Lizenzen handle es sich um ein „Concurrent-User-Modell“. Die reduzierte Anzahl an Schulungen sei dem Umstand geschuldet, dass die Antragsgegnerin über sehr erfahrene Trainer im Bereich der Leitstelle verfüge und deshalb Multiplikatorenschulungen und Anwenderschulungen für einen Teil der Disponenten ausreichten. Die von der Antragstellerin beanstandeten Unstimmigkeiten im Hinblick auf die geschätzten Kosten für die Schulungen basierten lediglich auf einem Formatierungsfehler; die ausgewiesene Zwischensumme sei zutreffend. Bei ihrer Schätzung sei die Antragsgegnerin davon ausgegangen, dass die Kosten für den Systemservice in der Gesamtsumme der Lizenzen enthalten sind. Die in der Auftragswertberechnung ausgewiesene Position für Wartung und Pflege beziehe sich auf darüber hinausgehende Ausgaben wie beispielsweise Weiterentwicklungen im Rahmen des sog. „Customizing“. Wie beim Systemservice sei auch die Software-Pflege im Rahmen der Schnittstelle verrechnet worden. Der im Beschaffungsauftrag ausgewiesene Betrag von 400.000 Euro habe keine Aussagekraft, da es sich hierbei nur um eine grob geschätzte Größenordnung handle und der Bedarfsträger kein umfassendes Wissen hinsichtlich des erforderlichen Leistungsumfangs gehabt habe.

Der Nachprüfungsantrag sei zudem unbegründet. Sowohl der von der Antragsgegnerin kalkulierte Leistungsumfang als auch das von der Beigeladenen erstellte Angebot erreiche den maßgeblichen Schwellenwert von derzeit 215.000 Euro nicht. Demnach sei die Leistung weder europaweit auszuschreiben noch eine Bekanntgabe im Amtsblatt der Europäischen Union erforderlich gewesen. Bei unterschwelligen Auftragswerten sei eine Direktvergabe aufgrund einer Pandemiebedingten Ausnahmeregelung möglich.

Ungeachtet dessen sei die Entscheidung der Antragsgegnerin durch eine Situation absoluter Dringlichkeit veranlasst gewesen. Die rasant um sich greifende Omikron-Variante habe dazu geführt, dass die Zahl der infizierten Personen im Februar/März europaweit exponentiell auf einen Höchststand angestiegen sei. In Anbetracht dieser akuten Bedrohung und des Umstands, dass bereits anderen Leitstellen in Europa aufgrund Omikronbedingter personeller Engpässe die Handlungsunfähigkeit gedroht habe, habe sich die Antragsgegnerin im März dieses Jahres dazu gezwungen gesehen, unverzüglich zu handeln. Die Annahme der Antragstellerin, der Vorteil eines beschleunigten Schulungsvorgangs sei verschwindend gering, sei nicht nachvollziehbar. Mit Hilfe der standardisierten Notrufabfrage könne die Schulungsdauer bei neuem Personal von bisher fünf bis sechs Wochen auf eine Woche reduziert werden. Dass die Antragsgegnerin die Beigeladene bereits am 10.01.2022 aufgefordert habe, ein Angebot abzugeben, sei unzutreffend. Der entsprechende Vortrag der Antragstellerin basiere offenbar auf einer Fehlinterpretation der Aussage der Beigeladenen. Die Anfrage eines Angebots habe erst am 17.02.2022 stattgefunden. Im Jahr 2021 sei noch keine zwingende Notwendigkeit zur Einführung einer standardisierten Notrufabfrage gesehen und der Beschaffungsvorgang aufgrund fehlender Priorisierung auf Leitungsebene zunächst nicht weiter verfolgt worden. Erst die Omikron-Variante, die seinerzeit nicht vorhersehbar und deren Wirkung auf das Ansteckungsgeschehen nicht bekannt gewesen sei, habe die Antragsgegnerin zu einem schnellen Handeln gezwungen.

Ein weiterer Grund für die Direktvergabe an die Beigeladene sei die hiermit verbundene Möglichkeit einer umfangreichen Stammdatenübernahme aus dem System der Leitstelle N… gewesen. Auch hieraus habe sich in Anbetracht des Zeitdrucks eine erhebliche Zeitersparnis ergeben. Soweit die Antragstellerin vortrage, dass sie derzeit an der Entwicklung einer Schnittstelle zu „ELDIS3by“ arbeite, sei anzumerken, dass neben der Programmierung Anpassungen beim Lieferanten der Schnittstelle vorzunehmen seien und die Schnittstelle zudem ausführlich getestet werden müsste. Um eine schnelle Implementierung und Inbetriebnahme zu ermöglichen, müsse der Auftragnehmer zum Einführungszeitpunkt über eine funktionierende Schnittstelle zum Einsatzleitsystem verfügen. Der Hersteller der Schnittstelle habe der Antragsgegnerin seinerzeit bestätigt, dass nur die Beigeladene über eine fertig programmierte Schnittstelle verfüge. Der von der Antragstellerin angegebene Zeitaufwand für die Entwicklung der Schnittstelle gelte allenfalls für die Basisentwicklung. Die Antragstellerin lasse insbesondere unberücksichtigt, dass auch bei der Antragsgegnerin umfangreiche Tests durchgeführt werden müssten. Es treffe zwar zu, dass die Einführung eines neuen Einsatzleitsystems geplant sei. Mit dem Beginn des Regelbetriebs im Jahr 2023 sei jedoch nicht zu rechnen. Für die Anpassung der Schnittstelle an das neue Einsatzleitsystem seien zudem in der Auftragswertberechnung Entwicklungskosten berücksichtigt worden.

Die Annahme der Antragstellerin, dass die Datenpflege innerhalb von 20 Personentagen durchgeführt werden könne, sei unrealistisch. Die Datenversorgung der Leitstelle N… habe über sechs Monate in Anspruch genommen und an diesem Prozess seien mehrere erfahrene Disponenten beteiligt gewesen.

Der von der Antragstellerin benannte freiberufliche Projektleiter sei schon seit ca. zwei Jahren nicht mehr für die Beigeladene tätig und habe an dem Vergabeverfahren nicht mitgewirkt.

Mit Beschluss vom 11.07.2022 wurde die Zuschlagsprätendentin zum Verfahren beigeladen.

Die Beigeladene stellt keine Anträge. Zur Sache teilt die Beigeladene mit, dass sie im Rahmen eines früheren Auftrags zur Lieferung einer standardisierten Notrufabfragesoftware die notwendige Schnittstelle zum bayernweit eingesetzten Einsatzleitsystem habe entwickeln lassen. Da die Module der Abfragesoftware entsprechend dem Bedarf in Umfang und Menge lizenziert würden, ließen sich die Preise nicht von einer Leitstelle auf die andere übertragen. Auch vereinten nicht alle Leitstellen dieselben Aufgaben in ihrem Tätigkeitsbereich. Der Aufwand für technischen und fachlichen Support werde regelmäßig kundenorientiert und zielgerichtet nach Notwendigkeit und Umfang der Softwareausstattung berechnet. Wartungsverträge würden auf Basis der EVB-IT monatsweise oder jahresweise abgeschlossen. Wegen der hohen Systemstabilität sei der Aufwand hierfür bei der Beigeladenen gering; in der Regel fielen Servicekosten weit unter den von der Antragstellerin angegebenen 15 bis 25 Prozent an. Der Aufwand bei der Schnittstellenwartung sei minimal.

Nach einer kurzen Anwenderschulung könnten unerfahrene Mitarbeiter sicher mit der Software der Beigeladenen umgehen. Über ein Multiplikatoren-Schulungsmodell würden Trainer der Leitstelle ausgebildet, die dann selbstständig die Anwenderschulungen vor Ort vornehmen könnten. Die Beigeladene sei nach Inbetriebnahme der Notrufabfragesoftware in der ILS N… am 10.01.2022 von der Antragsgegnerin um ein Angebot zur Lieferung einer standardisierten Notrufabfragesoftware gebeten und mit Schreiben vom 31.03.2022 beauftragt worden. Das verwendete Einsatzleitsystem ELDIS-3-BY unterscheide sich erheblich von dem auf dem Markt ebenfalls befindlichen Einsatzleitsystem ELDIS-3. Durch die vorhandene Schnittstelle hätten aufwändige Entwicklungsarbeiten mit einer Dauer von mehr als einem Jahr – diesen Zeitraum habe die Entwicklung und Realisierung der Schnittstelle der Beigeladenen zum Einsatzleitsystem ELDIS BY beansprucht – erspart werden können. Die Schnittstelle der Beigeladenen sei universell und daher auch für ein zukünftiges Einsatzleitsystem in den bayerischen Leitstellen vorbereitet. Aufgrund der vereinbarten Datenübernahme aus der ILS N… entfielen zusätzlich wochen- bzw. monatelange Datenpflegearbeiten. Diese könnten nicht von Lieferanten übernommen werden, da hierin die Alarm- und Ausrückeordnungen bestimmt würden.

Der von der Antragstellerin benannte Projektleiter sei nicht als freiberuflich tätiger Projektleiter für die Beigeladene tätig. Er habe in der Vergangenheit über sein selbstständiges Ingenieurbüro Aufträge für die Beigeladene erledigt; dies liege bereits mehrere Jahre zurück. Der Geschäftsführer der Antragstellerin sei langjähriger Mitarbeiter der Leitstelle M… und Angestellter der Branddirektion.

Am 04.10.2022 fand in den Räumen der Regierung von Oberbayern die mündliche Verhandlung statt. Die Sach- und Rechtslage wurde erörtert. Die Verfahrensbeteiligten hatten Gelegenheit zum Vortrag. Die Antragsgegnerin kündigte auf Nachfrage an, einen Kriterienkatalog für die technischen und fachlichen Anforderungen nachzureichen, den sie am 22.02.2022 zur Beantwortung an die Beigeladene übersandt hatte. Die Antragstellerin beantragte Akteneinsicht sowie Schriftsatznachlass.

Mit Beschluss vom 18.10.2022 gewährte die Vergabekammer der Antragstellerin Einsicht in die von der Antragsgegnerin nachgereichten Unterlagen. Mit nachgelassenem Schriftsatz vom 28.10.2022 wiederholte und vertiefte die Antragstellerin ihre bereits erhobenen Beanstandungen hinsichtlich der Auftragswertschätzung. Ergänzend führte sie aus, dass die Antragsgegnerin die Kosten für die Wartung der ELDIS-Schnittstelle des Anbieters des Einsatzleitsystems zu Unrecht nicht bei der Auftragswertschätzung berücksichtigt habe. Die Höhe der Wartungskosten betrage 20% der Schnittstellensoftware. Ebenso seien die Kosten der Entwicklung der Schnittstelle sowie für den Aufwand zur Implementierung der Schnittstelle auf Seiten des Anbieters der ELS-Software dem Auftragswert hinzuzurechnen, da es keinen Unterschied mache, ob die Schnittstelle bereits existiere oder nicht. Das Leistungsverzeichnis schließe zwar die Schnittstellenkosten des ELS-Herstellers aus. Diese Kosten würden jedoch sicher anfallen und seien daher in die Auftragswertschätzung vollumfänglich einzustellen.

Die Beteiligten wurden durch den Austausch der jeweiligen Schriftsätze informiert. Auf die ausgetauschten Schriftsätze, die Verfahrensakte der Vergabekammer, die Niederschrift der mündlichen Verhandlung vom 04.10.2022 sowie auf die Vergabeakten, soweit sie der Vergabekammer vorgelegt wurden, wird ergänzend Bezug genommen.


II.

Die Vergabekammer Südbayern ist für die Überprüfung des streitgegenständlichen Vergabeverfahrens zuständig.

Die sachliche und örtliche Zuständigkeit der Vergabekammer Südbayern ergibt sich aus §§ 155156 Abs. 1, 158 Abs. 2 GWB i. V. m. §§ 1 und 2 BayNpV.

Gegenstand der Vergabe ist ein Lieferauftrag i. S. d. § 103 Abs. 2 GWB. Der Antragsgegner ist Auftraggeber gemäß §§ 9899 Nr. 1 GWB. Eine Ausnahmebestimmung der §§ 107 – 109 GWB liegt nicht vor.

1. Der Nachprüfungsantrag ist zulässig. Insbesondere überschreitet der geschätzte Gesamtauftragswert den gemäß § 106 GWB maßgeblichen Schwellenwert in Höhe von 215.000 Euro.

1.1. Bei der Auftragswertschätzung ist der öffentliche Auftraggeber gehalten, in der Sache eine seriöse Schätzung durchzuführen, die den Vorgaben zur Ermittlung des Auftragswertes aus § 3 VgV entspricht. Denn nur, wenn nach einer Schätzung nach diesen Vorgaben der Schwellenwert nicht überschritten ist, wird ein öffentlicher Auftraggeber nach § 106 Abs. 1 Satz 1 GWB von der Anwendung der Vorschriften des GWB und damit einer europaweiten Ausschreibung frei. Daher ist diese Schätzung auch nach den Vorgaben des § 8 VgV zu dokumentieren, damit sie der Überprüfung durch die Nachprüfungsinstanzen überhaupt zugänglich sein kann (vgl. VK Südbayern, Beschluss vom 05.08.2019 – Z3-3-3194-1-14-05/19).

Gem. § 3 Abs. 1 VgV ist bei der Schätzung des Auftragswerts vom voraussichtlichen Gesamtwert der vorgesehenen Leistung ohne Umsatzsteuer auszugehen. Zudem sind etwaige Optionen oder Vertragsverlängerungen zu berücksichtigen. Die Schätzung des Auftragswerts setzt eine realistische, vollständige und objektive Prognose voraus, die sich an den Marktgegebenheiten orientiert (OLG Celle, Beschluss vom 29.06.2017 – 13 Verg 1/17; OLG Schleswig, Beschluss vom 28.01.2021 – 54 Verg 6/20 m. w. N.). Der Auftraggeber muss eine Methode wählen, die ein wirklichkeitsnahes Schätzergebnis ernsthaft erwarten lässt, und der Schätzung zutreffende Daten zugrunde legen (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 13.03.2019 – Verg 42/18). Ein pflichtgemäß geschätzter Auftragswert ist jener Wert, den ein umsichtiger und sachkundiger öffentlicher Auftraggeber nach sorgfältiger Prüfung des relevanten Marktsegments und im Einklang mit den Erfordernissen betriebswirtschaftlicher Finanzplanung bei der Anschaffung der vergabegegenständlichen Sachen veranschlagen würde (OLG Brandenburg, Beschluss vom 29.01.2013 – Verg W 8/12; OLG Celle, Beschluss vom 19.08.2009 – 13 Verg 4/09; OLG Frankfurt, Beschluss vom 08.05.2012 – 11 Verg 2/12).

1.2. Die Antragsgegnerin hat vorgetragen, dass sie zur Ermittlung des Auftragswerts maßgeblich auf die Vergabeunterlagen der Feuerwehr N… abgestellt habe. Das von N… angenommene Angebot sei um alle Leistungen und Komponenten reduziert worden, welche die Antragsgegnerin selbst erbringen könne. Dabei sei die Ausschreibung unter den aktuellen Zwängen einer extrem angespannten Haushaltslage erfolgt, so dass der Leistungsumfang auf das absolut Notwendige zu reduzieren gewesen sei.

Nach Ansicht der Vergabekammer genügt die vorgenommene Schätzmethode nicht den Anforderungen an eine pflichtgemäße Auftragswertschätzung. Zunächst ist festzuhalten, dass die in der dokumentierten Auftragswertberechnung aufgeführten Positionen nicht mit den Positionen des Leistungsverzeichnisses übereinstimmen, welches Gegenstand des Angebots der Beigeladenen ist. Dies ist jedoch grundsätzlich Voraussetzung für eine ordnungsgemäße Auftragswertschätzung (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 13.03.2019 – Verg 42/18). Hinzu kommt, dass die dokumentierte Auftragswertberechnung zwar die Positionen benennt, welche in die Schätzung des Auftragswerts eingeflossen sind. Erläuterungen dazu, welche Annahmen die Antragsgegnerin bei den ausgewiesenen Beträgen zugrunde legte, fehlen jedoch. Auch im Rahmen der mündlichen Verhandlung konnte die Antragsgegnerin nur oberflächlich erläutern, welche Erwägungen sie zu den angenommenen Schätzgrößen geführt haben.

Soweit die Antragsgegnerin vorträgt, dass sie zur Ermittlung des geschätzten Auftragswerts maßgeblich auf das Angebot der Beigeladenen in N… abgestellt habe, fehlt es auch insoweit an einer hinreichenden Dokumentation. So kann die Vergabekammer insbesondere nicht beurteilen, ob die Orientierung an den Preisen des Auftrags für die standardisierte Notrufabfragesoftware der integrierten Leitstelle N… geeignet war, ein wirklichkeitsnahes Schätzergebnis erwarten zu lassen. Dagegen spricht, dass nach dem Vortrag der Beigeladenen die Module der Abfragesoftware entsprechend dem Bedarf in Umfang und Menge lizenziert werden und sich dieser von Leitstelle zu Leitstelle unterscheidet. Die Vergabekammer kann auch nicht beurteilen, ob die Antragsgegnerin hinreichende Zuschläge berücksichtigt hat, um etwaige Preissteigerungen seit der Zuschlagserteilung in N… Anfang des Jahres 2020 einzupreisen. Die Antragsgegnerin hat im Rahmen der mündlichen Verhandlung lediglich erläutert, dass sie die Lizenzkosten des Referenzauftrags der ILS N… aufgerundet habe.

1.3. Fehlt es an einer ordnungsgemäßen oder plausiblen Auftragsschätzung, muss die Vergabekammer im Nachprüfungsverfahren den Auftragswert selbst anhand der eingegangenen Angebote schätzen (vgl. OLG Schleswig, Beschluss vom 28.01.2021 – 54 Verg 6/20; VK Südbayern, Beschluss vom 05.08.2019 – Z3-3-3194-1-14-05/19 m. w. N.).

Vorliegend kommt die Vergabekammer zu dem Ergebnis, dass ein ordnungsgemäß geschätzter Gesamtauftragswert den nach § 106 GWB maßgeblichen Schwellenwert von 215.000 Euro übersteigt. Zwar liegt die Netto-Summe des Angebots der Beigeladenen knapp unterhalb des maßgeblichen Schwellenwerts. Das Angebot der Beigeladenen ist jedoch nicht geeignet, die Richtigkeit der Auftragswertschätzung der Antragsgegnerin zu indizieren, da es nicht sämtliche Preisbestandteile umfasst, die bei dem im Rahmen der Auftragswertschätzung gemäß § 3 Abs. 1 VgV zu ermittelnden Gesamtwert zu berücksichtigen sind.

Der Gesamtwert bestimmt sich nach der Summe aller Kosten der nachgefragten Leistungen (BGH Urteil vom 20.11.2012 – X ZR 108/10; OLG München Beschluss vom 07.03.2013 – Verg 36/12) unter Berücksichtigung jeglicher Geldströme (OLG Brandenburg Beschluss vom 12.01.2016 – Verg W4/15; OLG Düsseldorf Beschluss vom 10.12.2014 – Verg 24/14). Sieht der öffentliche Auftraggeber Prämien oder Zahlungen an den Bewerber oder Bieter vor, sind auch diese gem. § 3 Abs. 1 Satz 3 VgV zu berücksichtigen. Die Schätzung muss insoweit alle geldwerten Vorteile einbeziehen, die ein zukünftiger Vertragspartner aus dem Auftrag ziehen kann (MüKoEuWettbR/Fülling, 4. Aufl. 2022, VgV § 3 Rn. 11).

Wie der Randbemerkung zur Anforderung Nr. 28 des Kriterienkatalogs mit den technischen Anforderungen zu entnehmen ist, sollten alle mit der Schnittstelle verbundenen Kosten, auch die des Herstellers des Einsatzleitsystems (ELS) wie Zertifizierung, Anpassung und Funktionstests, vom Bieter zu tragen und im Angebot darzustellen sein. Das Angebot der Beigeladenen enthält aber die Kosten für die ELS-seitige Implementierung der Schnittstelle gerade nicht. Auch die Kosten, welche auf Seiten des ELS-Anbieters für die Wartung der Schnittstelle anfallen, sind nicht Gegenstand des Angebots der Beigeladenen, da nach Angaben der Antragsgegnerin die Wartung im Rahmen eines Wartungsvertrages der Antragsgegnerin mit dem Anbieter der ELS-Software abgewickelt wird. Leistungen des öffentlichen Auftraggebers, die zu entsprechenden Einsparungen oder Aufwandsminderungen beim Auftragnehmer führen, stellen jedoch einen geldwerten Vorteil dar, der bei der Kostenschätzung zu berücksichtigen ist (für den speziellen Fall einer Bauleistung vgl. MüKoEuWettbR/Fülling, 4. Aufl. 2022, VgV § 3 Rn. 25). Denn es kann für die Ermittlung des Gesamtwerts eines Auftrags keinen Unterschied machen, ob der Auftraggeber dem Auftragnehmer eine Zahlung zur Minderung seines Aufwands zukommen lässt oder den vom Bieter zu tragenden Aufwand durch eine andere Form der Leistungserbringung kompensiert (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 10.12.2014 – Verg 24/14; konkret zu Betriebs- und Wartungskosten vgl. VK Südbayern, Beschluss vom 23.08.2017 – Z3-3-3194-1-24-05/17). Somit sind die von der Antragsgegnerin übernommenen Kosten für die ELSseitige Implementierung und Wartung der Schnittstelle bei der Schätzung des Auftragswerts zu berücksichtigen.

Ausweislich des von der Antragstellerin vorgelegten Angebots des ELS-Anbieters belaufen sich die Kosten für Implementierung und Wartung der Schnittstelle bezogen auf einen Zeitraum von vier Jahren auf einen niedrigen fünfstelligen Betrag. Unter Berücksichtigung dieser Kosten überschreitet das Angebot der Beigeladenen den maßgeblichen Schwellenwert von 215.000 Euro. Ebenfalls nicht Bestandteil des Angebots der Beigeladenen sind die Kosten für das sog. „Customizing“, welches ausweislich der Auftragswertberechnung einen optionalen Leistungsbestandteil bildet und dementsprechend gem. § 3 Abs. 1 Satz 2 VgV bei der Ermittlung des Gesamtwerts der Leistung zu berücksichtigen ist. Wie die Antragsgegnerin im Rahmen der mündlichen Verhandlung erläuterte, sollte mit dieser Position ein Budget reserviert werden, um individuelle Anpassungen und Weiterentwicklungen der Software finanzieren zu können. Allein die Hinzurechnung dieser optionalen Leistungsposition zum Angebotspreis der Beigeladenen führt zu einer Überschreitung des Schwellenwerts.

Ob die Antragsgegnerin den Leistungsumfang des Auftrags darüber hinaus in der Absicht reduziert hat, ihn dem Anwendungsbereich der Bestimmungen des vierten Teils des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen zu entziehen, bedarf vor diesem Hintergrund keiner Entscheidung.

1.4. Der Nachprüfungsantrag ist auch im Übrigen zulässig.

Gemäß § 160 Abs. 2 GWB ist ein Unternehmen antragsbefugt, wenn es sein Interesse am Auftrag, eine Verletzung in seinen Rechten nach § 97 Abs. 6 GWB und zumindest einen drohenden Schaden darlegt.

Die Antragstellerin hat ihr Interesse am Auftrag durch die Einreichung des Nachprüfungsantrags nachgewiesen. Zwar wird das für die Antragsbefugnis erforderliche Interesse am Auftrag in der Regel durch die Abgabe eines Angebots dokumentiert. Werden jedoch angebotshindernde Vergaberechtsverstöße geltend gemacht, bedarf es eines Angebots nicht; vielmehr wird das Interesse am Auftrag in diesen Fällen durch die Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens belegt (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 28.6.2017 – Verg 2/17). Die Antragstellerin hat ausgeführt, dass sie mangels Kenntnis von der beabsichtigten Vergabe keine Möglichkeit hatte, sich um den Auftrag zu bewerben. Es ist nicht erkennbar, dass sie mit diesem Nachprüfungsantrag einen anderen Zweck verfolgt, als den, den strittigen Auftrag (nach einer etwaigen Neuausschreibung) zu erhalten. Die Antragstellerin hat eine Verletzung in ihren Rechten nach § 97 Abs. 6 GWB geltend gemacht. Sie hat insbesondere dargelegt, dass der Auftragswert der streitgegenständlichen Vergabe über dem maßgeblichen EU-Schwellenwert liegt und der Auftrag nicht im Amtsblatt der Europäischen Union bekannt gemacht worden ist, obwohl dies geboten gewesen wäre.

Der Zulässigkeit des Nachprüfungsantrags steht auch keine Rügepräklusion nach § 160 Abs. 3 Satz 1 GWB entgegen, da gem. § 160 Abs. 3 Satz 2 GWB bei einem Feststellungsantrag nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB keine Rügeobliegenheit besteht (vgl. BayObLG, Beschluss vom 29.07.2022 – Verg 13/21).

Der Nachprüfungsantrag ist auch rechtzeitig innerhalb der Frist von 30 Kalendertagen nach der Information über den Abschluss des Vertrags gem. § 135 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1 GWB gestellt worden. Ausweislich der Vorgabe in Art. 2f Abs. 1 lit. a Gedankenstrich 1 der RL 89/665/EWG des Rates vom 21.12.1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge in der durch die RL 2014/23/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.02.2014 geänderten Fassung (Rechtsmittelrichtlinie) muss die Information über den Abschluss des Vertrags eine Zusammenfassung der einschlägigen Gründe gemäß Art. 55 Abs. 2 der RL 2014/24/EU enthalten. Ohne eine solche Information beginnt die Frist des § 135 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 GWB nicht zu laufen (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 22.02.2019 – 15 Verg 9/18). Ausweislich der Erwägungsgründe Nr. 6 und 7 der Rechtsmittelrichtlinie handelt es sich bei den mitzuteilenden Gründen um Informationen, die unerlässlich sind, um eine wirksame Nachprüfung zu beantragen. Wie die Antragstellerin vortrug, habe sie erst mit der E-Mail der Antragsgegnerin vom 02.05.2022 Kenntnis vom Auftragswert erlangt sowie den verschiedenen Gründen, auf welche die Antragsgegnerin die Direktvergabe stützte. Erst mit dieser Information sei es ihr möglich gewesen, zuverlässig zu beurteilen, ob im Rahmen der Auftragsvergabe durch die Antragsgegnerin gegen vergaberechtliche Vorschriften verstoßen wurde. Dem ist die Antragsgegnerin nicht entgegengetreten.

2. Der Nachprüfungsantrag ist auch begründet.

Die Antragsgegnerin hat den streitgegenständlichen Auftrag ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union vergeben, ohne dass dies aufgrund Gesetzes gestattet ist. Hierdurch wurde die Antragstellerin in ihren Rechten verletzt.

2.1. Da der geschätzte Gesamtauftragswert den gemäß § 106 GWB maßgeblichen Schwellenwert für öffentliche Lieferaufträge in Höhe von 215.000 Euro überschreitet, unterfällt der Auftrag dem Anwendungsbereich des vierten Teils des GWB. Die gem. §§ 3740 VgV grundsätzlich gebotene Auftragsbekanntmachung ist unterblieben.

Die Antragsgegnerin kann sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, dass im Rahmen eines EU-weiten Vergabeverfahrens die Veröffentlichung der Auftragsbekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union gemäß §§ 37 Abs. 1 Satz 2, 17 Abs. 5 VgV nicht erforderlich gewesen wäre, denn die Voraussetzungen für die Wahl eines Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb gemäß § 14 Abs. 4 VgV lagen im Zeitpunkt der Auftragsvergabe nicht vor.

Wie der Wortlaut der Vorschrift verdeutlicht, handelt es sich bei § 14 Abs. 4 VgV um eine Ermessensvorschrift (vgl. OLG München, Beschluss vom 28.09.2020 – Verg 3/20). Die Anwendung der dort normierten Ausnahmetatbestände hängt somit davon ab, dass die Vergabestelle auf Basis des ihr eingeräumten Ermessens eine Entscheidung dahingehend trifft, einen Auftrag im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb vergeben.

Bereits hieran fehlt es im vorliegenden Fall. Die Antragsgegnerin war ersichtlich der Auffassung, den Auftrag auf Basis der zum Zeitpunkt der Auftragsvergabe in Bayern gültigen Vorschriften für die Vergabe von Aufträgen im kommunalen Bereich im Wege einer beschränkten Ausschreibung ohne Teilnahmewettbewerb vergeben zu können, sofern sich ein Bezug zur Corona-Pandemie herstellen ließe. Mangels gegenteiliger Angaben in der Vergabedokumentation hat sich die Antragsgegnerin mit dem Vorliegen der Tatbestandvoraussetzungen einer Direktvergabe aufgrund eines Alleinstellungsmerkmal gemäß § 14 Abs. 4 Nr. 2 b) VgV oder einer Dringlichkeitsvergabe gemäß § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV nicht auseinandergesetzt. Selbst wenn man zugunsten der Antragsgegnerin annehmen wollte, dass sie dies nach Auftragsvergabe, insbesondere im Rahmen eines Nachprüfungsverfahrens, noch nachholen könnte (so OLG Dresden, Beschluss vom 21.09.2016 – Verg 5/16), bleibt ihr die Anwendung der Ausnahmevorschrift verwehrt, da die Tatbestandsvoraussetzungen nicht erfüllt sind.

Gem. § 14 Abs. 4 Nr. 2 b) VgV ist die Wahl des Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb zulässig, wenn zum Zeitpunkt der Aufforderung zur Abgabe von Angeboten der Auftrag nur von einem bestimmten Unternehmen erbracht oder bereitgestellt werden kann, weil aus technischen Gründen kein Wettbewerb vorhanden ist. Dies gilt gem. § 14 Abs. 6 VgV jedoch nur dann, wenn es keine vernünftige Alternative oder Ersatzlösung gibt und der mangelnde Wettbewerb nicht das Ergebnis einer künstlichen Einschränkung der Auftragsvergabeparameter ist. Ausweislich des Erwägungsgrunds Nr. 50 der RL 2014/24/EU bedarf es einer Situation der objektiven Ausschließlichkeit, bei der die Ausschließlichkeitssituation nicht durch den öffentlichen Auftraggeber selbst mit Blick auf das anstehende Vergabeverfahren herbeigeführt wurde. Ob ein Alleinstellungsmerkmal i.S.v. § 14 Abs. 4 Nr. 2 b) VgV besteht, hängt damit maßgeblich von der Leistungsbestimmung des Auftraggebers ab.

Vorliegend hat die Antragsgegnerin zwar angeführt, dass der Auftragnehmer zum Einführungszeitpunkt über eine funktionierende Schnittstelle zum Einsatzleitsystem habe verfügen müssen, um eine schnelle Implementierung und Inbetriebnahme zu ermöglichen. Wie der Randbemerkung zu Anforderung Nr. 28 des an die Beigeladene vorab versandten Kriterienkatalogs zu entnehmen ist, war das Vorhandensein der Schnittstelle kein technisches (Ausschluss-) Kriterium der Leistung; hier ist vielmehr von einer zu erstellenden Schnittstelle die Rede. Auch das Leistungsverzeichnis beinhaltet keine Vorgabe dahingehend, dass die Schnittstelle zu „ELDIS3by“ bereits vorhanden sein muss, sondern fragt im Gegenteil in den Positionen 3.1 sowie 3.2 Kosten für die Implementierung und Realisierung der Schnittstelle ab. Da es der Antragstellerin unstreitig möglich ist, die geforderte Schnittstelle zu erstellen, sind die von der Antragsgegnerin angeführten Gründe für die Beschränkung des Wettbewerbs auf die Beigeladene ausschließlich im Lichte der Dringlichkeit der Beschaffung i.S.v. § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV zu beurteilen.

Gem. § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV kann ein öffentlicher Auftraggeber Aufträge im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb vergeben, wenn äußerst dringliche, zwingende Gründe im Zusammenhang mit Ereignissen, die der betreffende öffentliche Auftraggeber nicht voraussehen konnte, es nicht zulassen, die Mindestfristen einzuhalten, die für das offene und das nicht offene Verfahren sowie für das Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb vorgeschrieben sind, wobei die Umstände zur Begründung der äußersten Dringlichkeit dem öffentlichen Auftraggeber nicht zuzurechnen sein dürfen. Als Ausnahmevorschrift ist § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV eng auszulegen (vgl. VK Südbayern, Beschluss vom 21.10.2020 – 3194.Z3-3_01-20-31). Dringliche und zwingende Gründe kommen nur bei akuten Gefahrensituationen und höherer Gewalt in Betracht, die zur Vermeidung von Gefahren und Schäden für Leib und Leben ein sofortiges, die Einhaltung von Fristen ausschließendes Handeln erfordern (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 20.12.2019 – Verg 18/19 m.w.N.). Unvorhersehbar sind Ereignisse, mit denen auch bei Anlegung eines hohen objektiven Sorgfaltsmaßstabs nicht gerechnet werden konnte (Ziekow/Völlink/Völlink, 4. Aufl. 2020, VgV § 14 Rn. 60). Zwischen dem unvorhersehbaren Ereignis und den sich daraus ergebenden dringlichen, zwingenden Gründen muss ein Ursachenzusammenhang bestehen (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 10.06.2015 – Verg 39/14; EuGH, Urteil vom 15.10.2009 – C-275/08). Zudem sind auch im Rahmen einer Dringlichkeitsvergabe die Grundsätze des Wettbewerbs und der Verhältnismäßigkeit gem. § 97 Abs. 1 GWB zu beachten, so dass der Auftrag in Umfang und Dauer auf das zur vorübergehenden Bedarfsdeckung erforderliche Maß zu begrenzen ist (vgl. Ziekow/Völlink/ Völlink, 4. Aufl. 2020, VgV § 14 Rn. 65 f. m. w. N.).

Vorliegend ist schon nicht ersichtlich, dass die Antragsgegnerin den Auftrag auf das zur Gefahrenabwehr erforderliche Maß begrenzt hätte. Die Reduktion der ursprünglich vorgesehenen Anzahl an zu beschaffenden Lizenzen hatte nach dem Vortrag der Antragsgegnerin seinen Grund darin, dass man erkannt hatte, wegen des „Concurrent“-Lizenzmodells separate Lizenzen für die Notfall-Leitstelle nicht zu benötigen. Hinzu kommt, dass der Beschaffungsbedarf für die standardisierte Notrufabfrage bereits Anfang des Jahres 2021 vorhanden war und jedenfalls Ende des Jahres 2021 die Erwartung bestand, alle Unterlagen am 10.01.2022 veröffentlichen zu können; also zu einem Zeitpunkt, an dem bereits mit einer schlagartigen Erhöhung der Infektionsfälle aufgrund der Omikron-Variante zu rechnen war (vgl. wöchentlicher Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 vom 30.12.2021, S. 3). Die Vergabekammer geht vor diesem Hintergrund davon aus, dass es der Antragsgegnerin möglich gewesen wäre, die Leistung bis zum 31.03.2022 auch im Rahmen eines beschleunigten offenen Verfahrens nach § 15 Abs. 3 VgV zu vergeben, was die Wahl eines Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb gem. § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV von vorneherein ausschließt (vgl. VK Südbayern, Beschluss vom 12.08.2016 – Z3-3-3194-1-27-07-16).

2.2. Die Antragstellerin ist durch die vergaberechtswidrig unterbliebene Auftragsbekanntmachung auch in ihren Rechten verletzt.

Bei einem Verstoß im Sinne des § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB genügt es für die Annahme eines entstandenen oder drohenden Schadens, dass die Antragstellerin in vergaberechtswidriger Weise nicht am Verfahren beteiligt wurde. Dies stellt eine Verschlechterung der Zuschlagsaussichten und damit einen potentiellen Schaden dar (vgl. BayObLG, Beschluss vom 29.07.2022 – Verg 13/21). Eine Rechtsverletzung der Antragstellerin scheidet vorliegend auch nicht deswegen aus, weil die von ihr vertriebene Software weder vor noch im Zeitpunkt der Zuschlagserteilung über eine Schnittstelle zu ELDIS3by verfügte, da sich die Antragsgegnerin nach den in Abschnitt 2.1. dargelegten Gründen insoweit nicht auf das Vorliegen eines Alleinstellungsmerkmals berufen kann.

3. Kosten des Verfahrens

Die Kosten des Verfahrens vor der Vergabekammer hat gemäß § 182 Abs. 3 S. 1 GWB derjenige zu tragen, der im Verfahren vor der Vergabekammer unterlegen ist. Dies ist vorliegend die Antragsgegnerin.

Die Gebührenfestsetzung beruht auf § 182 Abs. 2 GWB. Diese Vorschrift bestimmt einen Gebührenrahmen zwischen 2.500 Euro und 50.000 Euro, der aus Gründen der Billigkeit auf ein Zehntel der Gebühr ermäßigt und, wenn der Aufwand oder die wirtschaftliche Bedeutung außergewöhnlich hoch sind, bis zu einem Betrag vom 100.000 Euro erhöht werden kann.

Die Höhe der Gebühr richtet sich nach dem personellen und sachlichen Aufwand der Vergabekammer unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Bedeutung des Gegenstands des Nachprüfungsverfahrens.

Die Antragsgegnerin ist als Gemeinde von der Zahlung der Gebühr nach § 182 Abs. 1 S. 2 GWB i. V. m. § 8 Abs. 1 Nr. 3 VwKostG (Bund) vom 23. Juni 1970 (BGBl. I S. 821) in der am 14. August 2013 geltenden Fassung befreit.

Von der Antragstellerin wurde bei Einleitung des Verfahrens ein Kostenvorschuss in Höhe von 2.500 Euro erhoben. Dieser Kostenvorschuss wird nach Bestandskrafterstattet.

Die Entscheidung über die Tragung der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen der Antragstellerin beruht auf § 182 Abs. 4 S. 1 GWB. Die Zuziehung eines anwaltlichen Vertreters wird als notwendig i. S. v. § 182 Abs. 4 S. 4 GWB i. V. m. Art. 80 Abs. 2 S. 3, Abs. 3 S. 2 BayVwVfG angesehen. Die anwaltliche Vertretung war erforderlich, da die zweckentsprechende Führung eines vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahrens die rechtlichen Kenntnisse eines durchschnittlichen mittelständischen Unternehmens weit überschreitet. Für Bieter ist im Vergabenachprüfungsverfahren die Zuziehung eines anwaltlichen Vertreters regelmäßig erforderlich. Zur Durchsetzung ihrer Rechte war die Antragstellerin hier zudem aufgrund der komplexen Rechtsmaterie in Bezug auf die Feststellung der Unwirksamkeit einer Zuschlagserteilung auf anwaltliche Vertretung angewiesen.

Auch wenn die Beigeladene keine Anträge gestellt hat, muss die Vergabekammer von Amts wegen über die Aufwendungen der Beigeladenen entscheiden.

Die Entscheidung über die Tragung der zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beigeladenen beruht auf § 182 Abs. 4 S. 3, S. 2 GWB. Danach sind Aufwendungen der Beigeladenen nur erstattungsfähig, wenn die Vergabekammer sie als billig erachtet. Dabei setzt die Erstattungsfähigkeit jedenfalls voraus, dass die Beigeladene sich mit demselben Rechtsschutzziel wie der obsiegende Verfahrensbeteiligte aktiv am Nachprüfungsverfahren beteiligt hat (OLG Brandenburg, Beschluss vom 09.02.2010 – Verg W 10/09). Dafür muss eine den Beitritt eines Streithelfers vergleichbare Unterstützungshandlung erkennbar sein, an Hand derer festzustellen ist, welches (Rechtsschutz-) Ziel eine Beigeladene in der Sache verfolgt (OLG Celle, Beschluss vom 27.08.2008 – 13 Verg 2/08). Ist eine solche nicht ersichtlich, handelt es sich bei den entstandenen Aufwendungen der Beigeladenen nicht um solche zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung (VK Baden-Württemberg, Beschluss vom 11.02.2010 – 1 VK 76/10).

Die Beigeladene hat mit ihrem Vortrag zur Sachverhaltsklärung beigetragen, jedoch keine Anträge gestellt und sich die Rechtsposition der Antragsgegnerin auch nicht zu eigen gemacht. Sie war ersichtlich bestrebt, kein Kostenrisiko auf sich zu nehmen; sie trägt ihre Aufwendungen selbst.

(…)