Ax Rechtsanwälte

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Aktuelle vergaberechtliche Spruchpraxis Mai bis Juli 2020 – Überblick

VK Lüneburg, Beschluss vom 18.05.2020 – VgK-07/2020: Insolvenz in Eigenverwaltung: Kein zwingender Ausschluss

Im Falle der Insolvenz eines Bietergemeinschaftsmitglieds hat der Auftraggeber die Leistungsfähigkeit der gesamten Bietergemeinschaft anhand einer einzelfallbezogenen Prognoseentscheidung zu überprüfen.

Die Schwelle der Intensität der Aufklärung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ist jedoch abgesenkt, wenn es sich lediglich um eine Insolvenz in Eigenverwaltung handelt und das weitere Bietergemeinschaftsmitglied in jedem Fall zur Fortführung der Leistungen berechtigt ist. 

VK Lüneburg, Beschluss vom 18.05.2020 – VgK-06/2020: Referenzen sind stichprobenhaft zu überprüfen

Die Eignungskriterien müssen bereits in der Bekanntmachung eindeutig und abschließend beschrieben sein müssen. Ein bloßer Verweis auf die Vorschriften des GWB oder der Vergabeordnungen genügt nicht. Gleiches gilt für einen Verweis auf ergänzende Unterlagen oder Formblätter, die erst auf Anfrage zugesendet werden.

Der öffentliche Auftraggeber kann im Hinblick auf die wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit verlangen, dass die Bewerber oder Bieter einen bestimmten Mindestjahresumsatz, einschließlich eines bestimmten Mindestjahresumsatz in dem Tätigkeitsbereich des Auftrags, erzielen. Dieser darf das Zweifache des geschätzten Auftragswerts nur überschreiten, wenn aufgrund der Art des Auftragsgegenstands spezielle Risiken bestehen.

Der Auftraggeber kann eine Erklärung über den Umsatz des Unternehmens jeweils bezogen auf die letzten drei abgeschlossenen Geschäftsjahre verlangen, sofern er Bauleistungen und andere Leistungen betrifft, die mit der zu vergebenden Leistung vergleichbar sind.

Newcomern, die noch nicht drei abgeschlossene Geschäftsjahre vorweisen können, darf nicht alleine deshalb die Eignung abgesprochen werden.

Werden in der Bekanntmachung Referenzen über „vergleichbare“ Aufträge gefordert, darf der Auftraggeber bei der Bewertung der Referenzen keinen zu engen Maßstab anlegen. Er ist aber gehalten, den Referenzangaben bei jedem Bieter zumindest teilweise nachzugehen, sie z. B. durch telefonische Nachfrage bei den Referenzauftraggebern zu überprüfen.

In der Vergabeakte ist zu dokumentieren, ob, wann, mit welchem Inhalt und mit welchem Ergebnis der Auftraggeber Kontakt zum Referenzauftraggeber aufgenommen und sich mit dem dortigen Ansprechpartner über die Art und Weise des dortigen Auftrags und der dortigen Auftragserledigung ausgetauscht hat. 

VK Südbayern, Beschluss vom 27.05.2020 – 3194.Z3-3_01-20-7: Angaben im Formblatt 223 sind Instrument zur Preisprüfung

Eintragungen im Formblatt 223 (Aufgliederung der Einheitspreise) sind keine Preisangaben i.S.d. § 13 EU Abs. 1 Nr. 3 VOB/A 2019 (entgegen OLG Koblenz, IBR 2015, 217). Die Angaben im Formblatt 223 sind vielmehr ein Instrument zur Preisprüfung nach § 16d EU Abs. 1 Nr. 2 VOB/A 2019 bzw. § 15 EU Abs. 2 VOB/A 2019.

Der Auftraggeber braucht daher für die Anforderung des Formblatts 223 einen Aufklärungsbedarf hinsichtlich der Preisgestaltung des Bieters. Er muss entweder die Aufklärung eines ungewöhnlich niedrig erscheinenden Angebots nach § 16d EU Abs. 1 Nr. 2 VOB/A 2019 oder eines ungewöhnlich hoch erscheinenden Angebots nach § 15 EU Abs. 2 VOB/A 2019 bezwecken. Nur zu diesem Zweck darf das Formblatt 223, dessen Anforderung sich der Auftraggeber ggf. vorbehalten hat, tatsächlich angefordert werden.

Besteht ein solcher Aufklärungsbedarf führt das inhaltlich unzureichende Ausfüllen des Formblatts zum Ausschluss des Angebots.

Ein derartiger Aufklärungsbedarf kann auch dann bestehen, wenn die Auftragswertschätzung des Auftraggebers möglicherweise fehlerhaft und unvertretbar ist. 

VK Bund, Beschluss vom 28.05.2020 – VK 2-29/20: Zertifikate sind unternehmensgebunden

Der öffentliche Auftraggeber verlangen, dass als Nachweis über die Einhaltung von Qualitäts- bzw. Umweltmanagementmaßnahmen statt einer Eigenerklärung mit dem Angebot bestimmte DIN-Zertifikate einzureichen sind.

Zertifikate sind unternehmensgebunden und nicht rechtsgeschäftlich übertragbar. Eine von dem in dem geforderten Zertifikat genannten Unternehmen abgespaltene Gesellschaft „erbt“ das Zertifikat dementsprechend nicht.

Eine Nachforderung mit dem Ziel, eine vollständig eingereichte unternehmensbezogene Unterlage inhaltlich zu ändern/korrigieren, ist nicht zulässig. 

VK Bund, Beschluss vom 29.05.2020 – VK 2-19/20: Erstangebote im Verhandlungsverfahren sind fristgerecht einzureichen

Erstangebote im Rahmen eines Verhandlungsverfahrens sind „normale“ Angebote, für die alle Regeln des Vergaberechts gelten, soweit nicht spezifische Ausnahmen für Verhandlungsverfahren vorgesehen sind.

Die spezifische Ausnahme für Angebote im Verhandlungsverfahren ist die Nicht-Geltung des Nachverhandlungsverbots.

In Bezug auf die Einhaltung von Fristen ist für Erstangebote im Verhandlungsverfahren keine Ausnahme vorgesehen, so dass auch diese fristgerecht einzureichen sind.

Funktioniert in einem elektronischen Vergabeverfahren das Hochladen nicht auf Anhieb und führt dies zu einer (hier: sehr geringfügigen) zeitlichen Verzögerung mit der Folge des Versäumnisses der Angebotsfrist, fällt dies in die Sphäre des Bieters. 

BGH, Urteil vom 03.06.2020 – XIII ZR 22/19: Rechtsschutz gegen rechtswidrige Vergabesperre

Schließt ein öffentlicher Auftraggeber ein Unternehmen ohne hinreichenden sachlichen Grund generell von der Vergabe von Aufträgen oder der Teilnahme an Vergabeverfahren aus, steht dem ausgeschlossenen Unternehmen gegen die Umsetzung einer solchen rechtswidrigen Vergabesperre ein Unterlassungsanspruch zu. 

VK Lüneburg, Beschluss vom 08.06.2020 – VgK-09/2020: Nur deutliche Kostenüberschreitung ist ein Aufhebungsgrund

Eine Aufhebung ist zulässig, wenn schwerwiegende Gründe vorliegen. Darunter fällt auch das unwirtschaftliche Angebot, das den ordnungsgemäß ermittelten Auftragswert deutlich übersteigt.

Für die Unwirtschaftlichkeit kommt es auf den Gesamtauftragswert an, nicht auf einzelne Teilgewerke des zu vergebenden Auftrags. Unter „Gesamtauftragswert“ ist der Wert der europaweit bekannt gemachten Vergabe, nicht den Wert des Gesamtprojekts zu verstehen.

Hat sich der öffentliche Auftraggeber ermessensfehlerfrei dazu entschieden, bestimmte Lose des Bauprojekts in getrennten Vergabeverfahren zu beauftragen, ist er nicht verpflichtet, das Gesamtbudget über die Grenzen der Vergabeverfahren hinaus für die Frage zugrunde zu legen, ob der „Gesamtauftragswert“ überschritten wird.

Nur die deutliche Überschreitung der Kosten um 10 % ist ein schwerwiegender Aufhebungsgrund. 

VK Nordbayern, Beschluss vom 18.06.2020 – RMF-SG21-3194-5-7: Externe Berater eingesetzt: Wertungsentscheidung bleibt Auftraggebersache

Der Vergabestelle steht bei der Bewertung einzelner Angebote allgemein ein weiter Beurteilungsspielraum zu. Die Vergabekammer prüft die Bewertung der Vergabestelle nur daraufhin, ob diese ihren Beurteilungsspielraum verletzt hat, sie ersetzt insbesondere nicht die Wertung der Vergabestelle durch eine eigene Wertung.

Die Wertungsentscheidung muss den an sie zu stellenden vergaberechtlichen Anforderungen genügen. Dazu gehört, dass das vorgeschriebene Verfahren für die Bewertung eingehalten und der Sachverhalt vollständig und zutreffend ermittelt wird sowie die von der Vergabestelle selbst aufgestellten Vorgaben beachtet und keine sachwidrigen und gegen allgemeine Bewertungsgrundsätze verstoßenden Erwägungen angestellt werden.

Einer eigenständigen Begründung und Dokumentation zum Umstand, dass die Vergabestelle nicht bereits den Zuschlag auf das wirtschaftlichste indikative Angebot erteilt hat, bedarf es nicht. Die Tatsache, dass die Vergabestelle in das Verhandlungsverfahren eintreten wollte, ist bereits dadurch ausreichend dokumentiert, dass die Bieter zum Verhandlungsgespräch eingeladen wurden.

Die Vergabestelle muss die Vergabeentscheidung eigenständig treffen und darf sie nicht einem Dritten überlassen. Dieser Pflicht und Verantwortung im Hinblick auf eine eigene Vergabeentscheidung genügt ein Auftraggeber, wenn er die Wertung durch einen externen Dritten und dessen Zuschlagsvorschlag durch einen Prüfungsvermerk mit verantwortlicher Unterschrift billigt. 

BGH, Urteil vom 03.07.2020 – VII ZR 144/19: Neue Bauzeit nicht akzeptiert: Kein Vertrag zu Stande gekommen

Zu einem Vertragsschluss bei verzögerter Vergabe in einem öffentlichen Vergabeverfahren über Bauleistungen (Fortführung von BGH, IBR 2012, 630).