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Praxistipp – Wissensvorsprung ist vollständig zu egalisieren

Der Beantwortung der Frage, ob ein Unternehmen vorbefasst ist, ist keine formelle, sondern eine funktionale Betrachtungsweise zu Grunde zu legen.
Hat ein Unternehmen im Rahmen eines ersten Auftrags den Auftraggeber dabei unterstützt und begleitet, die Ziele, deren Konkretisierung und Umsetzung mit Rahmen eines zweiten Auftrags erfolgen soll, zu finden und festzulegen, handelt es sich bei dem ersten Auftrag nicht um einen vom zweiten Auftrag losgelösten Vorauftrag, sondern bei einer materiellen Betrachtung um eine Vorbereitung des zweiten Auftrags.

VK Bund, Beschluss vom 21.09.2021 – VK 2-87/21:

Ein Vergabefehler liegt darin, dass ein einziger Bieter, die Bg, durch einen Vorauftrag Kenntnisse und Informationen erlangt hat, die für die vorliegende Angebotserstellung einen substantiellen Vorteil darstellen. Dieser Wissensvorsprung der Bg hätte eines Ausgleichs durch die Ag bedurft.

Die Notwendigkeit, den Wissensvorsprung der Bg als vorbefasstes Unternehmen auszugleichen, folgt aus § 7 VgV. Die Bg war zwar bei einer rein formalen Betrachtung nicht in die Vorbereitung des streitgegenständlichen Vergabeverfahrens eingebunden. Dennoch liegt eine nach § 7 VgV relevante Vorbefasstheit vor, denn im europäischen Vergaberecht ist nicht eine formelle, sondern eine funktionale Betrachtungsweise zugrunde zu legen. Hier hat die Bg in einem nach den unterschwelligen Vergaberegeln der UVgO vergebenen Auftrag die Ag dabei unterstützt und begleitet, die Ziele, deren – kurzgefasst – Konkretisierung und Umsetzung mit dem streitgegenständlichen Auftrag erfolgen soll, zu finden und festzulegen. Es handelt sich bei dem ersten Auftrag somit nicht um einen vom streitgegenständlichen Auftrag losgelösten Vorauftrag, sondern bei einer materiellen Betrachtung um eine Vorbereitung des vorliegenden Auftrags. Der erste Auftrag, die Findung und Formulierung der strategischen Ziele, stellt die erste Stufe dar, auf der der vorliegende Auftrag, bei dem es um die Fortschreibung und Realisierung der Ziele geht, aufbaut. Die Bg hat damit die Ag i.S.v. § 7 Abs. 1 VgV beraten und war bei materieller Betrachtungsweise in die Vorbereitung des vorliegenden Auftrags eingebunden.
Kenntnis der Ziele stellt einen relevanten Wettbewerbsvorteil dar und ist geeignet, den Wettbewerb zu verzerren

Die Kenntnis der Ziele stellt einen relevanten Wettbewerbsvorteil dar und ist geeignet, den Wettbewerb zu verzerren. Zwar sollten die Bieter, worauf die Ag hinweist, in ihren Konzepten lediglich Methoden zur Zielerreichung darlegen. Die Aufgabenstellung war demnach abstrakt und nicht auf die konkreten Ziele zu beziehen. Offenbar war diese Aufgabestellung grundsätzlich auch erfüllbar und konnte durch die Bieter bedient werden. Dennoch muss davon ausgegangen werden, dass ein Konzept zielgerichteter im Sinne der Vorstellungen der Ag aufgestellt werden konnte, wenn die Ziele bekannt waren. Auch wenn Methoden zur Konkretisierung strategischer Ziele abstrakt dargestellt werden können, so können die im Konzept vorgeschlagenen Methoden bei Kenntnis doch exakter konzipiert und ausgerichtet werden. Die Methoden werden möglicherweise je nach Ziel anders ausgerichtet. Dass alle Bieter hier denselben Kenntnisstand haben, ist bei einem Konzeptwettbewerb besonders bedeutsam, denn dem Auftraggeber kommt bei der Bewertung der Konzepte im Rahmen einer funktionalen Vorgabe ein weiter Beurteilungsspielraum zu; umso wichtiger ist es, dass alle Bieter in gleicher Weise über dieselben relevanten Informationen verfügen. Die Bg hat ihren Kenntnisvorsprung aus der Vorbefasstheit, die aus dem ersten Auftrag resultiert, erlangt. Dass die Bg in ihren Konzepten nicht konkret auf die ihr bekannten Ziele rekurriert hat, ist entgegen der Auffassung der Ag kein Argument gegen einen Wettbewerbsvorteil infolge der Kenntnis der Ziele; auch ohne die Ziele verbal im Konzept zu benennen, konnte das Konzept mit den dort dargelegten Methoden konkreter auf die bekannten Ziele ausgerichtet werden. Dass bieterseits ein Bedürfnis danach bestand, die Ziele zu kennen, zeigt auch die darauf gerichtete Bieterfrage. Das aus dem Vorauftrag erlangte Sonderwissen der Bg ist aufgrund der inhaltlichen Verknüpfung der beiden Aufträge und des geschilderten Stufenverhältnisses nicht vergleichbar mit einem natürlichen Wettbewerbsvorteil eines Vorauftragnehmers, sondern geht darüber hinaus.
Ag ist verpflichtet, angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass der Wettbewerb durch die Teilnahme der Bg nicht verzerrt wird

Die Ag ist daher verpflichtet, angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass der Wettbewerb durch die Teilnahme der Bg nicht verzerrt wird (§ 7 Abs. 1 VgV). Zwar hat die Ag auf entsprechende Bieterfrage nach den Systemzielen hin mitgeteilt, dass es sich um sieben Ziele handelt und dass diese die Bereiche Versorgung, Marke, Wettbewerbsfähigkeit, Kundenorientierung und Ressourcen betreffen, was auch den anderen Bietern einen gewissen Anhaltspunkt gab. Die Benennung der großen Bereiche, denen die Ziele zuzuordnen sind, ist jedoch nicht gleichzusetzen mit der Kenntnis der ausformulierten, konkreten Strategieziele, so dass die Mitteilung der übergeordneten Themenbereiche nicht ausreicht, um den Wissensvorsprung auszugleichen.

Welche Maßnahmen die Ag zur Beseitigung der Wettbewerbsverzerrung ergreift, obliegt in erster Linie ihrer Entscheidung

Welche Maßnahmen die Ag zur Beseitigung der Wettbewerbsverzerrung ergreift, obliegt in erster Linie ihrer Entscheidung. Eine geeignete Maßnahme zur Sicherstellung eines unverzerrten Wettbewerbs dürfte sicherlich sein, auch die anderen teilnehmenden Bieter in Kenntnis von den Strategiezielen zu setzen und auf dieser Basis neue Angebote einzuholen. Zwar könnte die Ag bei diesem Vorgehen ihr legitimes Bedürfnis danach, den Kreis der Personen, die Kenntnis der Ziele erlangen, möglichst klein zu halten und die Ziele nur dem Auftragnehmer gegenüber zu eröffnen, nicht mehr im gewünschten Umfang wahren. Eine ggf. zulässige grundsätzlich andere Gestaltung der gesamten Auftragsvergabe, die die Geheimhaltungsinteressen der Ag besser hätte wahren können, womöglich in Form einer gebündelten Vergabe der Erarbeitung erster Systemziele und deren anschließender Konkretisierung, ist jedenfalls faktisch im gegebenen Zeitpunkt nicht mehr möglich. Soweit der Ausgleich der Wettbewerbsverzerrung erfordert, dass die Ag ihre Systemziele den Bietern gegenüber offenlegt und die Ag ihr Bedürfnis nach Vertraulichkeit nun ggf. nicht mehr umfassend wahren kann, wäre diese Konsequenz hinzunehmen und könnte nicht dazu führen, den aus der Vorbefasstheit der Bg resultierenden Wettbewerbsvorsprung der Bg zu legitimieren.

Abschließend ist anzumerken, dass das Ergebnis sich in gleicher Weise aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz des § 97 Abs. 2 GWB ergäbe, auch wenn man bei Zugrundelegung einer rein formalen Betrachtungsweise nicht von einer Vorbefasstheit der Bg im Sinne von § 7 VgV ausginge.