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VergMan ® - Rechtsprechungsreport: OLG FFM zur Frage der äußersten Dringlichkeit im Sinne des § 3a EU Abs. 3 Nr. 4 VOB/A 2019

vorgestellt von Thomas Ax

Äußerste Dringlichkeit ist regelmäßig bei unaufschiebbaren, nicht durch den Auftraggeber verursachten Ereignissen anzunehmen, bei denen eine gravierende Beeinträchtigung für die Allgemeinheit und die staatliche Aufgabenerfüllung droht, etwa durch einen schweren, nicht wiedergutzumachenden Schaden. Als dringliche und zwingende Gründe kommen deshalb akute Gefahrensituationen und höhere Gewalt in Betracht, die zur Vermeidung von Schäden der Allgemeinheit ein sofortiges, die Einhaltung von Fristen ausschließendes Handeln erfordern. Beispiele sind die Behebung von Sturm- und Brandschäden oder sonstigen Katastrophenschäden sowie die Beschaffung von Leistungen, die der kurzfristigen Bewältigung von Krisen (etwa der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020) und der Aufrechterhaltung des Dienstbetriebs der öffentlichen Verwaltung dienen. Eine äußerste Dringlichkeit kann hingegen nicht mit bloßen wirtschaftlichen Erwägungen begründet werden. Das Tatbestandsmerkmal wird ausgefüllt durch den Verweis auf die Mindestfristen, die in Verfahren mit einer EU-Auftragsbekanntmachung vorgeschrieben sind. Der Grad der Dringlichkeit muss demgemäß so hoch sein, dass selbst die auf ein zulässiges Maß verkürzten Teilnahme- und Angebotsfristen zu lang sind, um den Beschaffungsbedarf zu decken. Es darf also nicht möglich sein, die in §§ 10a, 10b und § 10c EU VOB/A vorgeschriebenen Fristen einzuhalten (Völlink in Ziekow/Völlink, 4. Aufl. 2020, VOB/A-EU § 3a EU Rn. 16; aaO VgV § 14 Rn. 62, 63; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 20. Dezember 2019 – Verg 18/19, „Trockenausbau“). Beim offenen Verfahren beträgt die Angebotsfrist mindestens 35 Kalendertage. Sie kann unter bestimmten Voraussetzungen verkürzt werden, darf aber auch im Fall der Dringlichkeit 15 Kalendertage nicht unterschreiten (§ 10a EU Abs. 3 VOB/A). Beim nicht offenen Verfahren beträgt die Teilnahmefrist mindestens 30 Kalendertage, sie kann im Fall der Dringlichkeit auf 15 Kalendertage verkürzt werden (§ 10b EU Abs. 5 Nr. 1 VOB/A). Die Angebotsfrist beträgt mindestens 30 Kalendertage, aus Gründen der Dringlichkeit kann sie bis auf 10 Kalendertage reduziert werden (§ 10b EU Abs. 5 Nr. 2 VOB/A). Beim Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb gelten die Fristen des nicht offenen Verfahrens (§ 10c EU Abs. 1 VOB/A). Die äußerste Dringlichkeit des § 3a EU Abs. 3 Nr. 4 VOB/A kann also nur dann gegeben sein, wenn selbst die Ausschöpfung aller Verkürzungsmöglichkeiten nach § 10 EU bis 10c EU VOB/A objektiv nicht ausreicht (Stickler in Kapellmann/Messerschmidt, VOB/A § 3aEU Rn. 57, beck-online).
OLG Frankfurt, Beschluss vom 07.06.2022 – 11 Verg 12/21
vorhergehend:
VK Hessen, 02.12.2021 – 69d-VK-2-32/2021

Gründe

I.

Die Antragstellerin erhielt in einem vorangegangenen, hier nicht verfahrensgegenständlichen, Vergabeverfahren aus dem Jahr 2013 den Zuschlag für Aufzugsarbeiten für elf Aufzüge im neu zu errichtenden – bis heute nicht fertiggestellten – Gebäude … (Bauteile …, …, …) der Klinik1 in Stadt1. Zwei dieser Aufzüge wurden während der Bauarbeiten an dem Gebäude als Bauaufzüge in Betrieb genommen. Nachdem der Antragsgegner den mit der Antragstellerin geschlossenen Bauvertrag am 07.08.2020 gekündigt hatte, gab er am 09.08.2021, also etwa ein Jahr später, die bereits erfolgte Vergabe hinsichtlich neun Aufzügen in dem Objekt an die Beigeladene bekannt. Diese erneute Vergabe ist Gegenstand des Nachprüfungsverfahrens.

Die Vergabekammer, für deren vollständige Feststellungen auf die angefochtene Entscheidung Bezug genommen wird, hat u.a. festgestellt:

Der Antragsgegner gab am 9. August 2021 in der hessischen Ausschreibungsdatenbank unter der Referenznummer HAD … bekannt, den hier streitgegenständlichen Auftrag am 4. August 2021 ohne vorherige Bekanntmachung eines Aufrufs zum Wettbewerb im Wege eines Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb vergeben zu haben. Als Grund gab der Antragsgegner unter Ziffer IV.1.1 der Bekanntmachung an, wegen der Dringlichkeit der Leistung aus zwingenden Gründen infolge von Ereignissen, die er nicht verursacht habe und auch nicht habe voraussehen können, hätten die in § 10a EU, 10 b EU und 10 c EU Abs. 1 VOB/A vorgeschriebenen Fristen nicht eingehalten werden können.

Der hier gegenständlichen Ausschreibung liegt eine Ausschreibung aus dem Jahre 2013 zu Grunde, mit der die Antragstellerin zur Errichtung von elf Aufzugsanlagen beauftragt worden ist. Im Zuge dieser Bauausführungsphase errichtete die Antragstellerin zwei dieser Aufzugsanlagen derart, dass diese einstweilen als Bauaufzüge genutzt werden können. Im Sommer des Jahres 2016 nahm der Antragsgegner bezüglich dieser beiden Aufzugsanlagen die von der Antragstellerin insoweit erbrachten Leistungen teilweise unter dem Vorbehalt der Beseitigung der bei der Teilabnahme festgestellten Mängel ab.

Die Arbeiten an den neun weiteren Aufzügen nahm der Antragsgegner nicht ab, da die Antragstellerin hier ihre Leistungen nur teilweise erbracht habe. In der Folgezeit stritten die Antragstellerin und der Antragsgegner über die Frage, welche Leistungen aus dem Hauptauftrag von der Antragstellerin erbracht worden seien und warfen sich gegenseitig unkooperatives und destruktives Verhalten vor. Der Antragsgegner forderte die Antragstellerin erstmals mit E-Mail vom 20. Juni 2017 und in der Folgezeit wiederholt dazu auf, hinsichtlich der in der Zwischenzeit erforderlichen technischen Anpassung der Aufzüge auf der Grundlage der DIN EN 81 20/50 ein Nachtragsangebot vorzulegen, was diese aber nicht abgab.

Am 7. August 2020 kündigte der Antragsgegner das Vertragsverhältnis außerordentlich, weil die Antragstellerin ihren Verpflichtungen gemäß Ziffer 10.22 der „Weiteren besonderen Vertragsbedingungen“ nicht nachgekommen sei, Leistungen nach Aufforderungen und Androhung nicht erbracht, die Baustelle nicht in angemessener Form besetzt habe, angeforderte Nachtragsangebote, welche zum abnahmereifen Erbringen der Leistung erforderlich gewesen seien, nicht abgegeben und Mängel aus den Teilabnahmen nicht beseitigt habe (Blatt 809 der Vergabeakte). Die Antragstellerin ging gegen die außerordentliche Kündigung zivilrechtlich nicht vor und legte am 15. Dezember 2020 ein Nachtragsangebot – nach Auffassung des Antragsgegners ohne hinreichende Kalkulationsnachweise (Blatt 41 der Vergabeakte) – vor, das der Antragsgegner am 28. Mai 2021 ablehnte, da die Antragstellerin trotz mehrfacher Hinweise die notwendigen Kalkulationsunterlagen nicht nachgereicht habe.

Wegen der zwei teilabgenommenen (Bau-) Aufzüge hat der Antragsgegner am 15. Juli 2020 Klage vor dem Landgericht Wiesbaden wegen mangelhafter Leistung erhoben. Der Rechtsstreit ist nach wie vor anhängig. Die Antragstellerin hat unter dem 11. November 2021 Widerklage wegen offener Werklohnforderungen erhoben.

Aufgrund der aus dem ursprünglichen Auftragsverhältnis aus dem Jahre 2013 resultierenden Streitigkeiten mit der Antragstellerin entschied der Antragsgegner, die nun nicht mehr dem Stand der Technik entsprechenden Aufzugsanlagen durch eine Drittfirma entweder demontieren, fachgerecht entsorgen und neu aufbauen (Hauptangebot) oder die teilerrichteten Aufzugsanlagen so um-/aufrüsten zu lassen, dass ein Inverkehrbringen auf der Grundlage der seit dem 1. August 2017 gültigen DIN EN 8120/50 möglich werde. Die Aufzugsanlagen sollen in dem noch nicht fertiggestellten Neubau des Hauses …, Bauteile …, … und … der Klinik1 Stadt1 eingebaut werden, in welchem sich dann alle wesentlichen „Kopfdisziplinen“ befinden werden, die zurzeit in verschiedenen Gebäuden auf dem Gelände des Klinik1 untergebracht sind. Ziel ist die Nutzung von Synergien beispielsweise durch gemeinsame Diagnose- und OP-Abteilungen.

Vor dem Hintergrund des Termindrucks zur Fertigstellung des „Hauses … …“ und der bestmöglichen Abwendung von im Falle von Fertigstellungsverzögerungen drohenden wirtschaftlichen Schäden, die monatlich im siebenstelligen Bereich veranschlagt worden sind, beschloss der Antragsgegner, die Beauftragung eines Drittunternehmens durch ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb zu realisieren, da diese Verfahrensart nach seiner Auffassung das Potenzial bot, schätzungsweise zwei Monate einsparen zu können.

Um für die ausgeschriebene Leistung Bieter mit den erforderlichen technischen Voraussetzungen und ausreichender Leistungsfähigkeit ausfindig zu machen, fand im Vorfeld durch den Antragsgegner eine Markterkundung statt. Der Antragsgegner wählte sechs Unternehmen aus, die durch ihre Fachkunde und Leistungsfähigkeit den technischen Anforderungen entsprachen, und ermöglichte am 4. Mai 2021 über die Vergabeplattform diesen sechs Unternehmen den Zugang zu den Vergabeunterlagen. Die Antragstellerin gehörte nicht zu den sechs ausgewählten Unternehmen des Antragsgegners. Die Angebotsfrist wurde letztendlich auf den 23. Juni 2021, 10:30 Uhr, festgelegt.

Von den sechs ausgewählten Bietern gab ausschließlich die Beigeladene ein Angebot ab, das der Antragsgegner einer rechnerischen und technischen Prüfung unterzog. Außerdem prüfte er die Auskömmlichkeit der Preise sowie der Kalkulationen und die Eignung des Bieters. Der Zuschlag auf das Angebot der Beigeladenen erfolgte am 4. August 2021. (…)

Mit Schriftsatz vom 27. September 2021 beantragte die Antragstellerin die Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens. (…)

Die Antragstellerin hat vor der Vergabekammer beantragt,

1. festzustellen, dass der gemäß HAD-Referenz-Nr. … erteilte öffentliche Auftrag von Anfang an unwirksam ist;

2. hilfsweise, dem Antragsgegner aufzugeben, den mit der HAD-Referenz-Nr. … bekannt gemachten Auftrag an die X GmbH gemäß § 133 Abs. 1 Nr. 3 GWB zu kündigen;

3. dem Antragsgegner für den Fall, dass er an der Beschaffungsabsicht festhalte, aufzugeben, den Auftrag im Wege eines förmlichen EU-weiten Vergabeverfahrens in einer zulässigen Verfahrensart nach § 3a EU Abs. 1 VOB/A sowie unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung der Vergabekammer auszuschreiben;

4. der Antragstellerin Akteneinsicht gemäß § 165 GWB zu gewähren.

Der Antragsgegner hat beantragt,

den Antrag auf Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens zu verwerfen, hilfsweise, den Antrag zurückzuweisen.

Die Beigeladene hat beantragt,

den Nachprüfungsantrag der Antragstellerin vom 7. September 2021 zurückzuweisen.

Die Vergabekammer, die der Antragstellerin keine Akteneinsicht gewährt hat, hat den Antrag mit dem der Antragstellerin am 17.12.2021 zugestelltem Beschluss vom 02.12.2021, auf den für seine genaue Begründung Bezug genommen wird, abgelehnt. Der Hauptantrag sei unbegründet. Die Vergabekammer hat offengelassen, ob die Voraussetzungen für ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnehmerwettbewerb vorgelegen haben und darauf abgestellt, dass ein solcher Fehler die Zuschlagschancen der Antragstellerin jedenfalls nicht verschlechtert habe. Denn der Antragsgegner habe die Antragstellerin im Verhandlungstermin vor der Vergabekammer berechtigt gem. § 6e EU VI Nr. 7 VOB/A und ermessensfehlerfrei vom Verfahren ausgeschlossen (VKB19ff.). Der (Hilfs-) Antrag zu 2) sei unzulässig, weil § 133 I GWB dem unterlegenen Bieter kein wehrfähiges Recht gewähre, so dass eine Antragsbefugnis nach § 160 II GWB insoweit nicht gegeben sei. Auch der Antrag zu 3 sei mangels Antragsbefugnis unzulässig, weil der zwischen dem Antragsgegner und der Beigeladenen geschlossene Vertrag nicht gem. § 135 I Nr. 2 GWB von Anfang an unwirksam sei.

Hiergegen richtet sich die sofortige Beschwerde der Antragstellerin, die am 31.12.2021 handschriftlich unterzeichnet und am 05.01.2022 über das besondere Anwaltspostfach (beA) in einer korrigierten Fassung beim Oberlandesgericht eingegangen ist. Die Korrekturen betreffen in der handschriftlich unterzeichneten Fassung nur mit Fehlermeldungen enthaltene automatische Verweise auf Anlagen. Die Antragstellerin wendet sich insbesondere gegen die Annahme eines Ausschlussgrundes, das Abstellen auf ein „hypothetisches Vergabeverfahren“, einen Ausschluss der Antragstellerin noch nach dem Zuschlag an die Beigeladene, eine fehlende Stellungnahme der Antragsgegnerin zu von der Antragstellerin vorgebrachten Selbstreinigungsmaßnahmen und eine aus Sicht der Antragstellerin gleichwohl und daher eigenständig erfolgte, nicht auf Ermessenskontrolle begrenzte Prüfung dieser Maßnahmen durch die Vergabekammer.

Die Antragstellerin beantragt,

1. die Entscheidung der Vergabekammer des Landes Hessen vom 02.12.2021 (69d-VK2-32/2021) aufzuheben;

2. festzustellen, dass der Vertrag zwischen dem Antragsgegner und der Beigeladenen vom 04.08.2021 – bekanntgemacht mit HAD-Referenz-Nr. … – von Anfang an unwirksam war;

3. hilfsweise, dem Antragsgegner aufzugeben, den mit der HAD-Referenz-Nr. … bekanntgemachten Auftrag an die Beigeladene gemäß § 133 Abs. 1 Nr. 3 GWB zu kündigen;

4. den Antragsgegner im Falle des Fortbestehens der Beschaffungsabsicht zu verpflichten, den Auftrag im Wege eines förmlichen EU-weiten Vergabeverfahrens in einer zulässigen Verfahrensart nach § 3a EU Abs. 1 VOB/A sowie unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts auszuschreiben;

5. hilfsweise, die Vergabekammer zu verpflichten, unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts über die Sache erneut zu entscheiden;

6. die Hinzuziehung der Verfahrensbevollmächtigten durch die Antragstellerin für notwendig zu erklären.

Außerdem beantragt sie,

ihr Akteneinsicht gem. § 165 GWB zu gewähren.

Der Antragsgegner widerspricht einer Akteneinsicht der Antragstellerin und beantragt,

die sofortige Beschwerde zu verwerfen, hilfsweise zurückzuweisen.

Die Beigeladene beantragt,

1. die sofortige Beschwerde zurückzuweisen;

2. den Antrag der Antragstellerin auf Akteneinsicht zurückzuweisen, hilfsweise die Akteneinsicht auf diejenigen Unterlagen zu beschränken, die unmittelbar von den im Nachprüfungsverfahren vom 7. September 2021 formulierten Vorwürfen gegen die Vergabestelle betroffen sind;

3. die Hinzuziehung eines Verfahrensbevollmächtigten durch die Beigeladene sowohl im Verfahren vor der Vergabekammer als auch im Beschwerdeverfahren für notwendig zu erklären.

Der Antragsgegner macht im Beschwerdeverfahren geltend, der (konkludente) Ausschluss der Antragsgegnerin liege schon darin, dass die Antragstellerin im Rahmen der Neuvergabe nicht berücksichtigt worden sei. Sie verneint eine hinreichende Selbstreinigung der Beschwerdeführerin und bezieht sich hinsichtlich der Ermessenserwägungen auf ihren Schriftsatz vom 30.11.2021, Bl. 1636 ff. d.BA, der der Antragstellerin nach deren Angaben im Schriftsatz vom 25.02.2022, S. 56, Bl. 287 d.A., nicht bekannt ist. Bei der Neuausschreibung sei kein Unternehmen bereit gewesen, auf dem vorhandenen Stand der Aufzugsanlagen aufzubauen.

II.

1. Die sofortige Beschwerde ist zulässig. Sie ist insbesondere statthaft und in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet worden, § 172 GWB.

a) Entgegen der Auffassung des Antragsgegners ist die Beschwerde nicht deshalb mangels ausreichender Begründung unzulässig, weil es wegen der Verweisfehler hinsichtlich der Anlagen im Fließtext des handschriftlich unterzeichneten, allein fristwahrend übermittelten, Exemplars an der gem. § 172 II GWB erforderlichen (geordneten) Angabe der Tatsachen und Beweismittel fehlte, auf die die Beschwerde gestützt ist. Zunächst listet die Beschwerdeschrift am Ende die maßgeblichen Anlagen nochmals auf, so dass eine Zuordnung möglich blieb. Vor allem aber sind die Mindestanforderungen an die Begründung auch dann erfüllt, wenn man die fehlerhaften Verweise auf die bereits der Vergabekammer vorgelegten Anlagen wegdenkt. Die Beschwerde ist nur dann wegen eines Begründungsmangels unzulässig, wenn das Beschwerdegericht ihr nicht entnehmen kann, aus welchen Gründen tatsächlicher oder rechtlicher Art die angefochtene Entscheidung nach Auffassung des Beschwerdeführers falsch sein soll. Fehlende Beweisantritte würden daher nur zur Unzulässigkeit führen, soweit ausschließlich die Nichtberücksichtigung von Beweismitteln gerügt, diese aber gleichwohl nicht hinreichend bezeichnet wären. Schlüssigkeit, hinreichende Substantiierung, Vertretbarkeit oder rechtliche Haltbarkeit werden hinsichtlich der formalen Mindestanforderungen nicht verlangt (vgl. MüKoZPO/Rimmelspacher, 6. Aufl. 2020, ZPO § 520 Rn. 42 für die strengeren Anforderungen nach § 520 ZPO, s.a. Pünder/Schellenberg, Vergaberecht, GWB § 172 Rn. 12, beck-online).

b) Der Zulässigkeit der sofortigen Beschwerde steht auch nicht entgegen, dass das zur Rechtsmitteleinlegung eingereichte konkrete Exemplar vom Antragstellervertreter bei Unterzeichnung nicht nochmals auf Vollständigkeit und Richtigkeit kontrolliert worden und damit in seiner konkreten Gestaltung gebilligt worden, sondern unbesehen unterschrieben worden ist.

Die Unterzeichnung der Beschwerdeschrift bzw. der Beschwerdebegründung durch einen postulationsfähigen Rechtsanwalt stellt keine bloße Formalität dar. Sie ist zugleich äußerer Ausdruck für die von dem Gesetz geforderte eigenverantwortliche Prüfung des Inhalts durch den Anwalt. Mit dem Anwaltszwang und den Regelungen über den notwendigen Inhalt einer Rechtsmittelbegründung soll erreicht werden, dass ein mit dem Verfahren vertrauter Rechtsanwalt dem Gericht und dem Gegner den Sachverhalt unter bestimmter Bezeichnung der im einzelnen anzuführenden Anfechtungsgründe nach persönlicher Durcharbeitung des Prozessstoffs vorträgt. Die Begründung muss deshalb Ergebnis der geistigen Arbeit des Rechtsanwalts sein. Aus Gründen der Rechtssicherheit begnügt sich das Gesetz hinsichtlich dieser Anforderungen allerdings mit dem äußeren Merkmal der Unterschrift ohne einen darüberhinausgehenden Nachweis zu fordern, dass der Anwalt den Prozessstoff eigenverantwortlich durchgearbeitet hat und die Verantwortung für dessen Inhalt tragen will. Ausnahmen von diesem Grundsatz werden von der Rechtsprechung nur in zwei Konstellationen anerkannt, nämlich zum einen, wenn der Anwalt sich durch einen Zusatz von dem unterschriebenen Schriftsatz distanziert, und zum anderen, wenn nach den Umständen außer Zweifel steht, dass der Rechtsanwalt den Schriftsatz ohne eigene Prüfung, also unbesehen, unterschrieben hat (vgl. zur Berufungsbegründung nach § 520 III ZPO: BGH, Beschluss vom 23. Juni 2005 – V ZB 45/04 mwN).

Vorliegend ist die handschriftlich unterzeichnete Beschwerdeschrift ausweislich des erläuternden Schriftsatzes vom 04.01.2022, Bl. 59 f. d.A., zur Vorlage der korrigierten Fassung nicht vom Rechtsanwalt selbst nach eigenhändiger abschließender Bearbeitung am Bildschirm, sondern vom Sekretariat ausgedruckt worden und sind die Verweisfehler erst nach Einreichung im Zuge der Prüfung der Beschwerdeschrift aufgefallen. Zugleich sind die Fehlermeldungen in der Beschwerdeschrift in Fettdruck ausgeführt und an mehreren Stellen in der Beschwerdeschrift enthalten, so dass sie selbst bei flüchtiger Durchsicht aufgefallen wären.

Die danach anzunehmende unbesehene Unterzeichnung der Beschwerdeschrift führt aber nicht zur Unzulässigkeit des Rechtsmittels, weil sich die Billigung und eigenverantwortliche Prüfung auf den gedanklichen Inhalt des Schriftsatzes bezieht und nicht auf die konkrete drucktechnische Umsetzung. Deshalb wird die Form selbst durch eine Blankounterschrift unter einem weisungsgemäß unter deren Verwendung erstellten Schriftsatz gewahrt, wenn der Rechtsanwalt den Inhalt des Schriftsatzes so genau festgelegt hat, dass er dessen eigenverantwortliche Prüfung bestätigen kann. Dies ist bei nur stichwortartiger Fixierung durch den Rechtsanwalt ohne abschließende Prüfung zu verneinen, aber zu bejahen, wenn der Inhalt des Schriftsatzes durch die Weisung des Rechtsanwalts so genau bestimmt worden ist, dass eine fachkundige Bürokraft ihn ohne weitere Festlegungen sachlicher oder inhaltlicher Art erstellen kann (BGH aaO Rn. 16 f.).

Im Streitfall spricht nichts für die Annahme, der Antragstellervertreter habe die Beschwerdeschrift nicht selbst entworfen und nur nach seiner abschließenden Durchsicht, wie vielfach üblich, für die Einarbeitung danach veranlasster konkret vorgegebener Änderungen in das elektronische Dokument und den Ausdruck eines fehlerfreien Exemplars ins Sekretariat zurückgegeben, bevor er die ihm dann vorgelegte Fassung ohne nochmalige Durchsicht unterschrieb.

2. Die Beigeladene ist neben den Parteien am Beschwerdeverfahren beteiligt. Zwar enthält die Akte der Vergabekammer keinen – durch die vollständig besetzte Kammer zu treffenden (MüKoVergabeR I/Jaeger, 2. Aufl. 2018, § 162 GWB, Rn. 8) – Beiladungsbeschluss, sondern nur Benachrichtigungen der Beigeladenen und der Parteien durch die Kammervorsitzende über die Beiladung (Bl. 670 ff. d. BA.). Insoweit kann dahinstehen, ob der Beigeladenen die Beigeladenenstellung auch bei einer Beiladungsentscheidung nur durch den Vorsitzenden oder durch eine bloße Benachrichtigung aller Beteiligten zukommt. Jedenfalls liegt in der angefochtenen, die Beigeladene als solche bezeichnende und im Tenor berücksichtigenden Entscheidung die Bestätigung der Beiladung durch die Kammer; ein etwaiger Verfahrensmangel wurde damit – jedenfalls ex nunc – geheilt.

3. Die sofortige Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg.

a) Der Nachprüfungsantrag ist zulässig.

aa) Die Vergabekammer hat zu Recht angenommen, dass der gem. § 106 I, II Nr. 1 GWB i.V.m. Art. 4 lit. a der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18/EG (nachfolgend Vergaberichtlinie genannt) maßgebliche Schwellenwert von 5.382.000 Euro erreicht ist, weil insoweit auf den (ursprünglichen) Gesamtauftrag für das Klinikgebäude von mehr als 450 Millionen Euro und nicht auf den den Schwellenwert für sich genommen nicht erreichenden Wert des neu zu vergebenden (Teil-) Auftrags abzustellen ist.

Ob bei Kündigung des Altauftrags und neuer Vergabe der noch nicht fertiggestellten oder nur mangelhaft erbrachten Leistungen für den nach § 106 GWB maßgeblichen Schwellenwert die Schwellenwerterreichung des Altauftrags maßgeblich bleibt, oder die Schwellenwerterreichung und damit die Anwendbarkeit des Kartellvergaberechts neu zu prüfen ist, wird nicht einheitlich beantwortet.

(1) Die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte geht, soweit ersichtlich, davon aus, dass auf den Wert des Altauftrags – und zwar bei losweiser Vergabe in Gestalt des nach § 3 VII VgV maßgeblichen Gesamtwerts aller Lose – abzustellen ist. Dies wird z.B. in den Beschlüssen des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 20.12.2019 – Verg 18/19, „Trockenausbau“, aaO, Rn. 22 f., und des Oberlandesgerichts Sachsen-Anhalt vom 15.03.2007 – 1 Verg 14/06, „Multimediazentrum II“) vorausgesetzt.

Auch die Vergabekammer des Landes Brandenburg und die Vergabekammer Rheinland-Pfalz gehen von einer Zuordnung der erneuten Vergabe zum ursprünglichen (Gesamt-) Auftrag aus (vgl. Vergabekammer des Landes Brandenburg, Beschluss vom 23. August 2018 – VK 15/18; Vergabekammer Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 22. Oktober 2010 – VK 2-34/10).

(2) In seinem Beschluss vom 04.02.2009 – Verg 65/08 – hat das Oberlandesgericht Düsseldorf die Frage ausdrücklich angesprochen und ausgeführt, es handele sich unbeschadet der dortigen Kündigung weiterhin um eine dem ursprünglich ausgeschriebenen Gesamtauftrag zuzuordnende Leistung und infolgedessen um einen Teil des Gesamtbauauftrags. Sachliche Gründe für eine unterschiedliche Einordnung des ursprünglichen Auftrags und der Restarbeiten seien nicht zu erkennen. Es hat dann allerdings gleichwohl offengelassen, ob dabei aus der Pflicht zur Ausschreibung des ursprünglichen Auftrags zugleich das Erfordernis einer Ausschreibung auch der Restarbeiten abzuleiten sei und ausgeführt, im dort zu entscheidenden Fall unterfielen die Restarbeiten schon deshalb dem Vergaberecht, weil das Gesamtvolumen aller noch zu vergebenden Aufträge den Schwellenwert überschreite. Vom dortigen Projekt mit einem Gesamtauftragswert von 40 – 45 Millionen Euro waren bislang erst Aufträge über etwa 7 Millionen Euro vergeben worden. Im hier vom erkennenden Senat zu entscheidenden Fall sind weitere noch zu vergebende Arbeiten indessen nicht ersichtlich.

(3) Aus der weiteren Entscheidung des Oberlandesgerichts Sachsen-Anhalt vom 14.03.2014 – 2 Verg 1/14, „Projektsteuerung“, folgt keine von der unter (1) dargestellten Annahme, grundsätzlich sei die Schwellenwerterreichung des Altauftrags maßgeblich, abweichende Auffassung. Dort ist zwar für die Neuvergabe auf den Wert des neu zu vergebenden Auftrags abgestellt worden. Dies ist jedoch damit begründet worden, dass der neue Auftrag sich in seinen wesentlichen Grundlagen vom bisherigen Generalplanervertrag unterscheide, weil nunmehr nur die Projektsteuerung vergeben werde und diese nicht mehr unselbständiger Bestandteil des Generalplanervertrags sei, sondern als einzelne Leistung vergeben werde. Deshalb würden auch jedenfalls zum Teil andere Wirtschaftsteilnehmer als potentielle Auftragnehmer angesprochen. Dieser Ausführungen hätte es nicht bedurft, wenn der Vergabesenat des Oberlandesgerichts Naumburg der Auffassung gewesen wäre, die Neuvergabe sei hinsichtlich der Schwellenwerterreichung ohnehin neu und ohne Rückgriff auf die vorangegangene Vergabe zu beurteilen.

(4) Demgegenüber wird in der Literatur vertreten, dass die erneute Vergabe nicht mehr dem Kartellvergaberecht unterfalle, wenn ein den Schwellenwert erreichender Auftrag während der Ausführung gekündigt worden ist und der Auftragswert der noch auszuführenden Leistungen für sich genommen unterhalb des Schwellenwertes liegt. § 3 VII VgV sei, wenn die Neuvergabe selbst nicht losweise erfolgt, nicht direkt anwendbar und für eine analoge Anwendung fehle es sowohl an einer planwidrigen Gesetzeslücke als auch an einer vergleichbaren Fallgestaltung. Der Auftraggeber stehe nicht anders, als wenn sich sein Beschaffungsbedarf von Anfang an nur auf die in Rede stehenden (Rest-) Arbeiten beschränkt hätte (Kühnen in Byok/Jaeger, Kommentar zum Vergaberecht, 4. Auflage, § 106 GWB Rn. 24; Schneider in Kapellmann/Messerschmidt, VOB-Kommentar, Teil A/B, 7. Auflage, § 3 VgV, Rn. 79).

(5) Der letztgenannten Auffassung ist zuzugestehen, dass jedenfalls bei nicht offensichtlich willkürlicher Kündigung des Altvertrages durch die Vergabestelle als Auftraggeberin keine Gefahr einer missbräuchlichen Umgehung des – zunächst beachteten – Kartellvergaberechts droht und die daraus folgende Abspaltung der Neuvergabe vom ursprünglichen Vergabeverfahren in der Kündigung bzw. den Kündigungsgründen eine sachliche Begründung findet. Zugleich kollidiert eine selbständige Prüfung der Anwendbarkeit des GWB-Vergaberechts nicht mit dessen Zwecken, insbesondere der Öffnung der Beschaffungsmärkte der EU-Mitgliedstaaten für einen unverfälschten und möglichst umfassenden Wettbewerb sowie der Schonung öffentlicher Ressourcen (vgl. zu diesen Zwecken Ziekow in ders./Völlink, VergabeR, 4. Auflage, GWB Einleitung Rn. 1), denn diese werden mit den Instrumenten des GWB nur bei die Schwellenwerte erreichenden Aufträgen angestrebt. Auch beruht die neuerliche Beschaffung zumindest auf einer Aktualisierung und damit Neuformung des nunmehr begrenzten Beschaffungswillens.

Die Ansicht kollidiert jedoch mit Satz 1 des 110. Erwägungsgrunds der Vergaberichtlinie. Danach soll „der erfolgreiche Bieter, zum Beispiel, wenn ein Auftrag aufgrund von Mängeln bei der Ausführung gekündigt wird, nicht durch einen anderen Wirtschaftsteilnehmer ersetzt werden, ohne dass der Auftrag erneut ausgeschrieben wird“. Aus Satz 2 des 110. Erwägungsgrunds der Vergaberichtlinie folgt, dass die Richtlinie von solchen Ersetzungen des Auftraggebers zulässige strukturelle Veränderungen auf Auftraggeberseite abgrenzen will, die kein neues Vergabeverfahren nach sich ziehen sollen. Diese Abgrenzung nehmen die Richtlinie in Art. 72 und das deutsche Recht in § 132 GWB vor. Dort wird die Ersetzung des Auftragnehmers nach Art. 72 Abs. 1 Unterabs. 1 lit. d der Richtlinie und § 132 I 3 Nr. 4 GWB als Auftragsänderung eingeordnet. Eine Auftragsänderung ist dabei nicht nur bei einvernehmlichen Vertragsänderungen, sondern z.B. auch dann anzunehmen, wenn der bisherige Vertrag gekündigt und ein anderes Unternehmen beauftragt wird (vgl. Vergabekammer des Landes Brandenburg aaO, Rn. 56, Ziekow in Ziekow/Völlink, VergabeR, 4. Auflage, § 132, Rn. 59). Dies folgt daraus, dass die „wesentliche Änderung“ nach § 132 I 2 GWB (nur) darin liegen soll, dass sich der (neue) öffentliche Auftrag erheblich von dem vergebenen (ursprünglichen) Auftrag unterscheidet, und dass nach § 132 II Nr. 4 lit. b, c GWB bzw. Art. 72 Abs. 1 Unterabs. 1 lit. d Nr. ii, iii der Vergaberichtlinie solche Änderungen auch allein in den Entschließungen einer Seite wurzeln können. § 132 II Nr. 4 lit. c GWB und Art. 72 Abs. 1 Unterabs. 1 lit. d Nr. iii der Vergaberichtlinie betreffen dabei auch den Fall, dass der Auftraggeber die verbleibenden Leistungen nach Kündigung des ursprünglichen Vertrags selbst ausführt (s. BeckOK VergabeR/Mertens/Götze, 23. Ed. 31.1.2021, GWB § 132 Rn. 97).

Vor diesem Hintergrund folgt aus der – im Streitfall nicht einschlägigen – de-minimis-Regelung des § 132 III GWB bzw. des Art. 72 Abs. 2 Unterabs. 1 der Vergaberichtlinie, dass das Nichterreichen des Schwellenwertes hinsichtlich des neuen Auftrags allein nicht ausreicht, die Anwendbarkeit des Kartellvergaberechts von vornherein mangels Schwellenwerterreichung zu verneinen. Vielmehr ist für den insoweit nach § 106 GWB maßgeblichen Schwellenwert auf den ursprünglichen Auftrag abzustellen. Denn die Anwendbarkeit der de-minimis-Regelung setzt nicht nur das Nichtübersteigen der Schwellenwerte hinsichtlich des neu zu vergebenden Auftrags (lit. a bzw. Nr. i), sondern außerdem das Nichtüberschreiten eines bestimmten Prozentsatzes des ursprünglichen Auftragswertes (lit. b bzw Nr. ii) voraus.

bb) Die Antragstellerin ist, wie die Vergabekammer zutreffend angenommen hat, im Sinne des § 160 II 2 GWB antragsbefugt.

Das Interesse der Antragstellerin an dem Auftrag folgt aus der Ausrichtung ihres Geschäftsbetriebs auf den Aufzugsbau und der Beteiligung am ursprünglichen, für sie erfolgreichen Vergabeverfahren im Jahr 2013. Es wird nochmals dadurch bestätigt, dass sich die Antragstellerin auch weiterhin um Aufträge des Antragsgegners bewirbt.

Mit der Rüge, die angegriffene Vergabe widerspreche wegen des gewählten Vergabeverfahrens den Bestimmungen des GWB über das Vergabeverfahren, macht sie eine Verletzung in eigenen Rechten nach § 97 VI GWB geltend. Damit ist auch ein drohender Schaden dargelegt, denn die Antragstellerin hätte sich bei einem Verfahren mit Teilnahmewettbewerb bewerben können und hätte damit (bessere) Zuschlagschancen gehabt, als bei dem von der Antragsgegnerin gewählten, die Antragstellerin von vornherein nicht einbeziehenden Verfahren.

Der Zugang zum Nachprüfungsverfahren kann nicht mit der Begründung verwehrt werden, das Angebot des Antragstellers sei aus anderen als mit dem Nachprüfungsantrag zur Überprüfung gestellten Gründen auszuscheiden gewesen, weshalb dem Antragsteller wegen der von ihm behaupteten Rechtswidrigkeit kein Schaden erwachsen sei oder drohe (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Mai 2004 – X ZB 7/04, „Mischkalkulationen“, BGHZ 159, 186). Die Frage, ob das Angebot aus irgendwelchen Gründen (zwingend) auszuschließen ist, ist daher eine Frage der Begründetheit (so Dicks in Ziekow/Völlink, GWB, 4. Auflage, § 160 Rn. 9 aE), allerdings nur, sofern es für diese hierauf ankommt. Allenfalls in der Begründetheit ist auch zu prüfen, ob der Antragstellerin die Berufung auf die materielle Rechtslage, also eine etwaige Unwirksamkeit nach § 135 GWB, nach Treu und Glauben zu verwehren ist. Die Einleitung des Nachprüfungsverfahrens selbst ist im Streitfall jedenfalls nicht treuwidrig. Weder hat die Antragstellerin ein Vertrauen der Beklagten dahin geweckt, sie werde bestimmte Umstände nicht zum Gegenstand des Nachprüfungsverfahrens machen, noch hat sich der Antragsgegner hierauf eingerichtet und verlassen.

cc) Die übrigen Zulässigkeitsvoraussetzungen des Nachprüfungsantrags liegen vor, insoweit wird auf die zutreffenden Ausführungen der Vergabekammer Bezug genommen, auch hinsichtlich der Entbehrlichkeit von Rügen nach bereits erteiltem Zuschlag.

b) Der Nachprüfungsantrag ist hinsichtlich der Beschwerdeanträge zu 2) und 4) begründet, so dass die hilfsweise gestellten Beschwerdeanträge zu 3) und 5) nicht zu bescheiden sind.

aa) Der zwischen der Antragsgegnerin und der Beigeladenen abgeschlossene Vertrag ist gem. § 135 I Nr. 2 GWB unwirksam.

(1) Die Antragsgegnerin hat den Auftrag nicht vor der Vergabe im Amtsblatt der Europäischen Union bekannt gemacht, so dass die Tatbestandsvoraussetzungen des § 135 I Nr. 2 GWB gegeben sind. Da es auch sonst keine Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union gab, greift auch § 135 III GWB nicht ein.

(2) Darauf, ob dem Antragsteller ein Schaden entstanden ist oder droht, kommt es für die Rechtsfolge des § 135 I Nr. 2 GWB nicht an; die Norm stellt allein auf die fehlende Bekanntmachung ab.

Eine Schadensentstehung oder -gefahr ist in einem eine Unwirksamkeit nach § 135 GWB betreffenden Nachprüfungsverfahren nur im Rahmen des Zulässigkeitserfordernisses der Antragsbefugnis und dort, wie bereits ausgeführt, nur insoweit relevant, als der Schaden aufgrund der mit dem Nachprüfungsantrag zur Überprüfung gestellten Gründe auszuschließen ist. Ob tatsächlich ein Schaden eingetreten ist, ist erst – soweit dafür erheblich – bei Geltendmachung an die Unwirksamkeit anknüpfender weiterer Rechtsfolgen zu prüfen, die hier nicht verfahrensgegenständlich sind.

(3) Der Antragstellerin ist die Berufung auf die Unwirksamkeit nach § 135 I Nr. 2 GWB auch nicht nach Treu und Glauben verwehrt.

Dabei kann dahinstehen, ob der Rechtsschutz im Falle des § 135 GWB überhaupt nach Treu und Glauben eingeschränkt werden kann (vgl. Braun in Ziekow/Völlink, aaO § 135 Rn. 119 ff.). Denn im Streitfall scheidet eine derartige Einschränkung jedenfalls deshalb aus, weil das Vorgehen des Antragsgegners auf Grundlage der von ihm selbst zutreffend bejahten Anwendbarkeit des GWB-Vergaberechts offensichtlich rechtswidrig war und die Grenze zur Willkür überschritten hat; der Antragsgegner ist nicht schutzwürdig.

Der Antragsgegner beruft sich auf § 2 VgV, § 3a EU III Nr. 4 VOB/A, der in inhaltlicher Übereinstimmung mit der Bestimmung des § 14 IV Nr. 3 VgV ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb erlaubt, wenn „wegen der äußersten Dringlichkeit der Leistung aus zwingenden Gründen infolge von Ereignissen, die der öffentliche Auftraggeber nicht verursacht hat und nicht voraussehen konnte, die in § 10a EU, § 10b EU und § 10c EU Absatz 1 vorgeschriebenen Fristen nicht eingehalten werden können.“

Äußerste Dringlichkeit ist regelmäßig bei unaufschiebbaren, nicht durch den Auftraggeber verursachten Ereignissen anzunehmen, bei denen eine gravierende Beeinträchtigung für die Allgemeinheit und die staatliche Aufgabenerfüllung droht, etwa durch einen schweren, nicht wiedergutzumachenden Schaden. Als dringliche und zwingende Gründe kommen deshalb akute Gefahrensituationen und höhere Gewalt in Betracht, die zur Vermeidung von Schäden der Allgemeinheit ein sofortiges, die Einhaltung von Fristen ausschließendes Handeln erfordern. Beispiele sind die Behebung von Sturm- und Brandschäden oder sonstigen Katastrophenschäden sowie die Beschaffung von Leistungen, die der kurzfristigen Bewältigung von Krisen (etwa der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020) und der Aufrechterhaltung des Dienstbetriebs der öffentlichen Verwaltung dienen. Eine äußerste Dringlichkeit kann hingegen nicht mit bloßen wirtschaftlichen Erwägungen begründet werden. Das Tatbestandsmerkmal wird ausgefüllt durch den Verweis auf die Mindestfristen, die in Verfahren mit einer EU-Auftragsbekanntmachung vorgeschrieben sind. Der Grad der Dringlichkeit muss demgemäß so hoch sein, dass selbst die auf ein zulässiges Maß verkürzten Teilnahme- und Angebotsfristen zu lang sind, um den Beschaffungsbedarf zu decken. Es darf also nicht möglich sein, die in §§ 10a, 10b und § 10c EU VOB/A vorgeschriebenen Fristen einzuhalten (Völlink in Ziekow/Völlink, 4. Aufl. 2020, VOB/A-EU § 3a EU Rn. 16; aaO VgV § 14 Rn. 62, 63; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 20. Dezember 2019 – Verg 18/19, „Trockenausbau“).

Beim offenen Verfahren beträgt die Angebotsfrist mindestens 35 Kalendertage. Sie kann unter bestimmten Voraussetzungen verkürzt werden, darf aber auch im Fall der Dringlichkeit 15 Kalendertage nicht unterschreiten (§ 10a EU Abs. 3 VOB/A). Beim nicht offenen Verfahren beträgt die Teilnahmefrist mindestens 30 Kalendertage, sie kann im Fall der Dringlichkeit auf 15 Kalendertage verkürzt werden (§ 10b EU Abs. 5 Nr. 1 VOB/A). Die Angebotsfrist beträgt mindestens 30 Kalendertage, aus Gründen der Dringlichkeit kann sie bis auf 10 Kalendertage reduziert werden (§ 10b EU Abs. 5 Nr. 2 VOB/A). Beim Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb gelten die Fristen des nicht offenen Verfahrens (§ 10c EU Abs. 1 VOB/A). Die äußerste Dringlichkeit des § 3a EU Abs. 3 Nr. 4 VOB/A kann also nur dann gegeben sein, wenn selbst die Ausschöpfung aller Verkürzungsmöglichkeiten nach § 10 EU bis 10c EU VOB/A objektiv nicht ausreicht (Stickler in Kapellmann/Messerschmidt, VOB/A § 3aEU Rn. 57, beck-online).

Vorliegend begründet der Antragsgegner die Dringlichkeit mit Termindruck bei der Fertigstellung des Klinikgebäudes. Er befürchtet wirtschaftliche Schäden (VKB5), die monatlich im siebenstelligen Bereich liegen und meint, mit dem Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb ließen sich zwei Monate Zeit einsparen. In der Antragserwiderung vom 29.09.2021, S. 64 f., Bl. 144 ff d.A. hat er darauf abgestellt, dass es um Daseinsvorsorge gehe, Gefahr im Verzug im polizeirechtlichen Sinne nicht erforderlich sei und in dem neuen Gebäude die „Kopfdisziplinen“ vereint werden sollten, die derzeit in auf dem Gelände verstreuten Gebäuden untergebracht seien, die in absehbarer Zeit saniert bzw. neu gebaut werden müssten.

Damit ist eine Dringlichkeit nicht ansatzweise ersichtlich. Wirtschaftliche Nachteile genügen, wie ausgeführt, grundsätzlich nicht. Die Versorgung der Bevölkerung erscheint nicht gefährdet, vielmehr kann sie auch einige Zeit länger – nach den Angaben des Antragsgegners zwei Monate – wie bisher in den bestehenden Gebäuden gewährleistet werden.

Der Dringlichkeit steht auch die zeitliche Gestaltung des durchgeführten Vergabeverfahrens entgegen. Der Antragsgegner hat eine Angebotsfrist von mehr als 7 Wochen vorgesehen. Schon daraus folgt, dass die Vergabe im offenen Verfahren und im nicht offenen Verfahren mit Teilnehmerwettbewerb hätte durchgeführt werden können.

bb) Aus den vorstehenden Ausführungen unter II 3 b) aa) (3) folgt, dass der Antragsgegner bei fortbestehender Beschaffungsabsicht zur Durchführung eines erneuten, den Vorgaben des GWB entsprechenden Vergabeverfahrens verpflichtet ist.

4. Der Antrag der obsiegenden Antragstellerin auf Akteneinsicht gem. § 165 GWB ist zurückzuweisen, weil sie für den Erfolg ihres Rechtsschutzbegehrens keiner Akteneinsicht bedurfte.

5. Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens vor der Vergabekammer und die dortigen notwendigen Aufwendungen beruht auf § 182 III 1, IV 1 GWB, § 80 I, III 2 HessVwVfG. Da der Nachprüfungsantrag begründet ist, hat der Antragsgegner die Kosten für die Amtshandlungen der Verfahrenskammer (Gebühren und Auslagen) gem. § 182 III 1 GWB und die zur Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen der Antragstellerin gem. § 182 IV 1 GWB zu tragen. Die Hinzuziehung der Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin ist gem. § 182 IV 4 GWB, § 80 III 2 HessVwVfG für notwendig zu erklären. Die Notwendigkeit ist nicht deshalb zu verneinen, weil das Vorliegen der Voraussetzungen des § 135 I Nr. 2 GWB und die Begründetheit des Nachprüfungsantrags offensichtlich sind. Denn die Antragstellerin ist vor der Vergabekammer unterlegen und hatte erst in der Beschwerde Erfolg.

Der Beigeladenen sind neben dem Antragsgegner keine Kosten aufzuerlegen, da dem Nachprüfungsantrag aus Gründen stattzugeben ist, die allein in der Sphäre des Antragsgegners liegen (vgl. Krohn in Burgi/Dreher/Opitz, Beck’scher Vergaberechtskommentar, 4. Aufl. 2022, GWB § 182 Rn. 33). Da sie den unterlegenen Antragsgegner unterstützt hat, sind ihr jedoch auch keine Aufwendungen zu erstatten.

6. Die Höhe der festgesetzten Gebühr greift die Beschwerde nicht an.

7. Die Kostenentscheidung für das Beschwerdeverfahren beruht auf §§ 175 II, 71 GWB. Da die sofortige Beschwerde erfolgreich ist und das Vorgehen des Antragsgegners offensichtlich rechtswidrig war, entspricht es billigem Ermessen, die Kosten des Beschwerdeverfahrens dem Antragsgegner aufzuerlegen. Hinsichtlich der Kosten der Beigeladenen, die an den sonstigen Verfahrenskosten nicht zu beteiligen ist (Bechtold/Bosch in dies., GWB, 10. Aufl. 2021, § 71 Rn. 9), entspricht es billigem Ermessen, dass diese von der Beigeladenen selbst getragen werden. Denn die Beigeladene hat sich gegen den begründeten Nachprüfungsantrag gewandt und das rechtswidrige Vorgehen des Antragsgegners verteidigt.

Unter „Kosten“ des Verfahrens im Sinne des § 71 GWB sind dabei sowohl die Gerichtskosten als auch die außergerichtlichen Kosten zu verstehen (Bechtold/Bosch aaO, § 71 Rn. 2), einer Entscheidung über die Notwendigkeit der Hinzuziehung der Verfahrensbevollmächtigten bedarf es insoweit nicht (Vavra/Willner in Burgi/Dreher/Opitz, Beck’scher Vergaberechtskommentar, 4. Aufl. 2022, GWB § 175 Rn. 14).

8. Der Schriftsatz des Antragsgegners vom 19.05.2022 und die Stellungnahme der Antragstellerin vom 30.05.2022 geben keine Veranlassung zum Wiedereintritt in die mündliche Verhandlung.

9. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 50 II GKG.